Lockende Versuchung
erkannte sie, dass sie Edmund Fitzhugh schon lange Zeit liebte. Anfangs hatte sie ihre Gefühle für ihn als Dankbarkeit angesehen, zu der später noch Mitleid und Pflichtbewusstsein hinzutraten. Später dann kleidete sie sie vor sich selbst in das trügerische Gewand kameradschaftlicher Zuneigung. Bis zu jener grünen Dämmerstunde in der zauberhaften Bucht am Fluss hatte sie sich selbst damit zum Narren gehalten und weiterhin versucht, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen und ihre ungehörigen Gedanken als Unsinn abzutun, als törichte Verblendung.
Wie war das nur möglich? Wie konnte sie Edmund lieben, ihre Zuflucht, ihren treuen Gefährten und guten Freund? Deinen Gemahl, flüsterte eine spöttische Stimme in ihrem Unterbewusstsein. Es schien Vanessas Stimme zu sein.
Gewiss, ich bin dem Namen nach Lady Fitzhugh, aber ich gehöre doch nach wie vor zu Crispin. Wie konnte ich mich dennoch in einen anderen Mann verlieben und ausgerechnet auch noch in Edmund, fragte sich Julianna hilflos. Warum habe ich diesen Lauf der Dinge nicht zeitig genug erkannt, um ihm einen Riegel vorschieben zu können?
Weil du noch ein halbes Kind bist und keine Erfahrung in Sachen Liebe hast, erklang aufs neue Vanessas Stimme.
Unwillig wandte sich Julianna vom Spiegel ab, tauschte das zerrissene Hemd gegen ein sittsames Nachtgewand und kroch ins Bett. Doch der Schlaf wollte nicht kommen.
Was sollte sie nur tun? Niemals durfte Edmund von ihrer Liebe zu ihm erfahren, die in seinen Augen Treulosigkeit sein musste, da er doch nur stellvertretend für Crispin die Ehe mit ihr geschlossen hatte. Und auch vor Crispin musste die Wahrheit verborgen bleiben, sonst würde keiner von beiden ihr je verzeihen.
Es gab wohl nur einen Ausweg aus diesem fürchterlichen Zwiespalt, so schmerzlich er auch war. Sie musste sich beharrlich, Schritt für Schritt, diese verbotene Liebe aus dem Herzen reißen und ihrer Zuneigung zu Crispin neues Leben einhauchen. Es war eine unsagbar schwere Aufgabe, doch sie würde sie bewältigen wie alle anderen zuvor auch. Schließlich war es ihr ja auch gelungen, Jeromes hinterhältige Pläne zu durchkreuzen, die Feindseligkeit der Dienerschaft in Fitzhugh House zu überwinden, Edmund von der Schwelle des Todes zurückzuholen und neue Freunde zu gewinnen. Nun hing ihre weitere Zukunft davon ab, dass sie in der Lage sein würde, das Herz ihrem Willen zu unterwerfen.
Es würde eine bittere, bedrückende Pflicht sein …
Gegen Mitternacht erwachte Edmund in einem Zustand heftiger Erregung. Im Traum hatte er die Vorgänge an der alten Abtei noch einmal durchlebt. Doch als er Laurence von Julianna zurückriss, war es plötzlich Crispin gewesen, den er gepackt hatte und auf den er in sinnloser Wut einschlug, immer und immer wieder, bis sich Julianna dazwischenwarf, um den Geliebten mit ihrem eigenen Körper zu schützen. „Mörder! Schurke!“, hatte sie geschrien. „Du bist nicht besser als Laurenceund Jerome, denn du willst mich unter dem Deckmantel der Verwandtschaft in dein Bett zwingen!“
Bevor Edmund noch irgendetwas erwidern konnte, hatte sich Crispin wieder aufgerichtet. Aber er trug plötzlich das kalte, grimmige Antlitz seines Großvaters, Reverend Crispin Fitzhugh – Edmunds Vater, der mit einem langen, knochigen Zeigefinger auf Edmund wies und mit drohender Stimme sagte: „Du sollst nicht begehren deines Neffen Weib.“
Die Angst vor der ewigen Verdammnis hatte Edmund wachgerüttelt. Schweren Herzens gestand er sich die widerwärtige Wahrheit ein, dass die Liebe zu Julianna ihn zu Crispins Rivalen machte. Den jungen Mann, den er wie einen Bruder geliebt hatte, beneidete er jetzt aus tiefster Seele.
Mit einem bitteren, freudlosen Lachen erinnerte sich Edmund daran, wie er Julianna des Treuebruchs gegenüber Crispin angeklagt hatte …
Julianna hatte unruhig geschlafen und erwachte am Morgen mit einem beklemmenden Gefühl, das sie sich erst erklären konnte, als ihr das Zerwürfnis mit Edmund wieder einfiel. Niedergeschlagen fragte sie sich, ob nicht wenigstens ihre Freundschaft zu retten wäre. Doch dazu musste er ihr erst ihren törichten Ausflug mit Laurence ebenso verzeihen wie sie ihm den gehässigen Verdacht einer Beziehung zu Vanessa.
Als sie das Frühstückszimmer betrat, hatte sich Edmund hinter dem Gentleman’s Magazin verschanzt und machte sich nicht einmal die Mühe aufzublicken, als sie am Tische Platz nahm. Ratlos rührte Julianna in ihrer Teetasse und räusperte sich mehrmals
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