Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?
Lutschern und anderen Herrlichkeiten. Ich hoffe immer umsonst.
Alle werden mit Namen aufgerufen, wenn sie ihr schön bunt verpacktes Geschenk bekommen. Auch die Mohr-Kinder aus unserem Haus bekommen jetzt Geschenke, ebenso der Paul. Was mich aber am meisten ärgert, die Christel Schauer gehört auch zu den Halbwaisen. Obwohl sie doch einen Stiefvater bekommt und katholisch wird, also auch noch von den Missionaren beschenkt wurde.
Herr Löwer kennt einen Lehrer an der amerikanischen Schule. Nun haben die beiden Lehrer verabredet, dass unsere Klasse seine besucht. Wir sollten alle Päckchen mit Plätzchen und Weihnachtssachen machen und einem Kind aus der fremden Klasse schenken. Die hätten sicher auch Päckchen für uns.
Nun, wir haben uns aufgemacht und sind zum Kattenbacher Schafott gegangen, da ist nämlich die Schule. Es war richtig weihnachtlich. Schneeflocken wirbelten rum und wir hatten alle ganz rote Backen von dem scharfen Wind.
In der Klasse war es warm und hell. Sie hatten einen Christbaum mit vielen bunten Kugeln und Kerzen. Wir gaben unsere Päckchen dem Lehrer, der sie dann verloste. Es war sehr lustig. Jeder in unserer Klasse passte genau auf, welches Kind sein Päckchen erwischte und was für ein Gesicht es machte. Mein Päckchen bekam ein dünner, blasser Junge mit abstehenden Ohren. Er schien nicht besonders begeistert zu sein.
Nachdem alle amerikanischen Kinder ihre Päckchen hatten, sangen wir ein Weihnachtslied. Dann sang die andere Klasse. Wir sangen immer abwechselnd. Es war so richtig schön. Vor allem, seitdem wir entdeckt hatten, was für fantastische Päckchen unter dem Weihnachtsbaum für uns bereitlagen. Die waren in wunderschönes Papier gewickelt und mit Schleifen zugebunden. Außerdem waren die Päckchen noch mit kleinen Engeln und Tannenzweigen geschmückt.
Dann sangen wir gemeinsam „Stille Nacht“, wir auf Deutsch, die anderen auf Englisch. Die Amerikaner kennen das Lied nämlich auch.
Jetzt musste der große Moment endlich kommen.
Und er kam.
Die amerikanische Klasse erhob sich und wünschte ihrem Lehrer „Merry Christmas.“ Dann stürmten alle vor, schnappten die schönen Päckchen, die unterm Weihnachtsbaum gelegen hatten, und drängten sich um ihren Lehrer.
Er bekam von jedem seiner Schüler ein Geschenk - und wir durften gehen.
Auf dem Rückweg hatte keiner von uns mehr Weihnachtsstimmung. Es war bereits dämmrig und kalt. Die Schneeflocken hatten sich in Schneematsch verwandelt. Jeder hat sich geärgert. Wir waren auch alle furchtbar enttäuscht.
Herr Löwer aber war ganz still.
Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?
Unsere Ulla hat uns verlassen. Jetzt gehört ihre Musiktruhe uns, das heißt, wenn wir alle Raten abbezahlt haben. Mein Vater hat ja dafür gebürgt, dass die Ulla zahlen kann. Aber das hat sie nicht mehr gekonnt.
Sie hat ja nicht mal mehr die Miete für die Mansarde bezahlen können. Deshalb versteckte sie sich vor uns und tat immer so, als sei sie nicht zuhause, wenn jemand bei ihr klopfte.
Mama hat sich sehr aufgeregt, besonders wegen der Raten. Mein Vater freut sich aber über die Musiktruhe, weil er nur noch die Hälfte des Preises bezahlen muss.
Ulla tut uns allen leid. Jeden Tag habe ich ihr etwas von unserem Mittagessen vor die Tür gestellt. Der leere Teller stand immer wieder draußen.
Ullas Freund ist ohne sie nach Amerika zurückgegangen. Er hat ihr aber zum Trost ein Baby da gelassen, welches sie in vier Monaten bekommen soll. Da das „kein Zustand“ ist, wie meine Mutter sagt, hat sie an ihren Vater geschrieben. Der ist eines Tages aufgekreuzt und hat seine Tochter mitgenommen. Der Vater hat weiße Haare und ist kleiner als seine Töchter. Aber sehr energisch. Ulla war das alles sehr peinlich. Irgendwie hat sie trotzdem erleichtert ausgesehen. Ich habe ihr versprochen, sie mal zu besuchen und das habe ich auch fest vor.
Jetzt ist die Mansarde leer und ich vermisse Ulla.
Papa hat auch alle Platten von ihr bekommen, weil sie die ohne Plattenspieler nicht mehr braucht. Da sind ganz traurige Lieder dabei, bei denen ich immer weinen muss. Ich verstehe nur nicht, dass man weint, weil einem etwas gefällt.
Es wird christlich geteilt
Wir sind immer froh, wenn die amerikanischen Soldaten Manöver haben. Wenn sie damit fertig sind, sieht’s da wirklich wie auf einem Schlachtfeld aus. Man findet jedenfalls immer interessante Sachen. Marmelade in Dosen, Margarine in Tuben, ja sogar Schokolade in Dosen.
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