Lockruf Der Leidenschaft
Verschlag unter der Treppe in der Taverne, die ihr so viele Nächte als Schlafstatt gedient hatte. Wie konnte es in ein und derselben Stadt so krasse Gegensätze geben? Die Freude und Erregung über ihre neue, ungewohnte Umgebung verflogen abrupt, und zurück kehrte das elende, niederdrückende Gefühl der Erschöpfung und des Durchgefrorenseins, das ihr schon in der Kutsche so zugesetzt hatte.
Nicholas sah, wie Polly ein Zittern überlief und wie sie hastig den Kopf abwandte, als ob sie etwas vor ihm verbergen wollte. Er ging zum Bett und bückte sich, um ein niedriges Rollbett darunter hervorzuziehen. »Du kannst heute Nacht hier schlafen. Und morgen früh wird sich Margaret um dich kümmern; sie wird wissen, was mit dir zu tun ist.«
Polly fuhr abrupt zu ihm herum. »Wer ist Margaret?« »Die Dame des Hauses«, erwiderte er. »Eure ... Eure Ehefrau.«
»Die Witwe meines Bruders. Sie führt den Haushalt.«
»Ich will nicht, dass sie irgendetwas mit mir tut, weder morgen noch sonst irgendwann«, erklärte sie. »Mit Euch als meinem Mäzen werde ich Master Killigrew am Königlichen Schauspielhaus vorgestellt werden, und er wird erkennen, was für eine gute Schauspielerin ich bin.« Sie setzte sich auf das Rollbett und massierte ihre schmerzenden Füße. »Und später, wenn ich erst einmal etabliert bin und Ihr nicht länger mein Mäzen sein wollt, werde ich eben jemand anderen finden. So ist das doch normalerweise, nicht wahr?«
Nicholas bemerkte, dass ihm vor Verblüffung der Mund offen stehen blieb. Dabei war ihre Vorstellung gar nicht so ungewöhnlich. Seit der König vor drei Jahren verfügt hatte, dass die weiblichen Rollen am Theater nur von Frauen gespielt werden sollten, hatten die jungen und schönen, die talentierten und weniger talentierten die Bühne gewählt, da sie im Grunde den kürzestmöglichen Weg zu einem adligen Ehemann oder einem reichen Beschützer und Ernährer darstellte. Es gab zahllose Männer, sowohl reich als auch adlig, die eifrig bemüht waren, jeden geforderten Preis zu zahlen - den Gang zum Traualtar nicht ausgenommen -, um in den Genuss der Aufmerksamkeiten eines dieser kapriziösen Geschöpfe zu kommen. Nicholas hegte kaum Zweifel daran, dass dieses hinreißende Mädchen, wenn sie erst einmal ein gewisses Maß an gesellschaftlichem Schliff erlangt hatte, nur einen Schritt auf die Bühne zu machen brauchte, und Thomas Killigrew würde nicht mehr danach fragen, ob sie eine ausgebildete Schauspielerin war oder nicht - ebenso wenig wie das Publikum. Es war sogar durchaus denkbar, dass diese ehemalige Wirtshausmagd aus Botolph's Wharf - sofern sie ihre Karten geschickt ausspielte - auf dem Weg über das Bett irgendeines Edelmannes sogar bis in die engsten Kreise am Hofe von König Charles gelangen könnte. In diesem Moment kam Nicholas die Idee - ein Plan, der in seiner Einfachheit geradezu genial war. Was, wenn das Mädchen in einen ganz besonderen Kreis eingeschleust werden könnte - in Buckinghams Kreis, um genau zu sein - , wo sie gewisse Dinge erfahren würde. Dinge, die sie, wenn man sie nur geschickt aushorchte, Nicholas und seinen Leuten enthüllen würde? Konnten sie eine ahnungslose Spionin aus diesem atemberaubenden Geschöpf machen, das durch einen glücklichen Zufall aus den stinkenden Sümpfen der finstersten Elendsviertel aufgetaucht war? Nachdenklich legte Nicholas die Stirn in Falten. Er würde auf jeden Fall mit äußerster Vorsicht vorgehen müssen. Das Mädchen musste erst einmal gründlich auf seine Rolle vorbereitet und danach durch geschickte Manöver in die richtige Richtung gelenkt werden. Er würde seine Idee so bald wie möglich De Winter und den anderen unterbreiten, doch in der Zwischenzeit durfte er unter keinen Umständen zulassen, dass Polly voreilige Schritte unternahm.
»Es ist nicht auszuschließen, dass wir uns gegenseitig von Nutzen sein können«, meinte er bedächtig. »Doch wenn du Wert auf meine Hilfe und Unterstützung legst, musst du bereit sein, dich voll und ganz unter meine Fittiche zu begeben. Du wirst vielleicht Dinge tun müssen, die dir zunächst widerstreben mögen, aber du musst mir versprechen, dass du mir vertraust und tun wirst, was ich dir sage.«
Polly sah ihn ein wenig verwirrt an. »Ich verstehe nicht, warum es Probleme geben sollte. Ihr braucht mich morgen nur Master Killigrew vorzustellen, das ist alles. Den Rest erledige ich selbst.«
»Nein«, erklärte Nicholas entschieden. »So einfach ist das nicht.» Seine Augen
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