Lockruf Der Leidenschaft
mehr in Kincaids Gesellschaft sehen ließ.
Nicholas' Dilemma war schwierig und gefährlich. Ihm standen zwei Möglichkeiten zur Verfügung - er konnte das Ganze einfach aussitzen und das Risiko eingehen, dass sich hinter seiner momentanen Unbeliebtheit nichts anderes versteckte als eine Laune und ein wenig Tratsch. Oder aber er floh aus London und widmete sich in Yorkshire so lange dem Landleben, bis die Aufmerksamkeit des Königs von etwas anderem in Anspruch genommen wurde, sodass er Kincaid darüber vergaß. Der letztere Weg erschien Nicholas als der klügere, wenn er davon ausging, dass es einen konkreten Anlass für König Charles' Zorn und Misstrauen gab, denn konkrete Anlässe führten zunächst in den Tower und dann auf den Richtblock. Doch er rätselte noch immer, was der eigentliche Grund für all das sein mochte. Und selbst wenn er floh, was sollte dann mit Polly geschehen? Wenn er sie zurückließ, könnte sie aufgrund der Tatsache, dass sie seine Mätresse war, ebenfalls in Gefahr schweben. Wenn er sie jedoch mitnahm, würde er sie ausgerechnet an einem wichtigen Punkt ihrer Karriere - einer Karriere, die davon abhing, stets in der Öffentlichkeit zu bleiben - aus dem Theater fortreißen. Doch dazu besaß er nicht das Recht - zumindest nicht, wenn er sich nicht absolut sicher war, dass tatsächlich Gefahr drohte. Letztendlich war sie ja auch noch nicht seine Ehefrau. Was in diesem Fall sogar besser für sie ist, dachte er traurig. Denn je größer die vermeintliche Distanz zwischen ihnen in dieser kritischen Situation war, umso besser.
»Willst du mich verlassen?«, hörte Polly sich plötzlich flüstern, ohne dass sie es beabsichtigt hatte. Der trostlose Ausdruck in Nicks Gesicht ängstigte sie mehr als alles andere, und das Bedürfnis, den Grund für diese Miene zu erfahren, war mit einem Mal unbezwingbar geworden, in welches Elend sie dieses Wissen auch immer stürzen würde.
Angesichts dieser geradezu unheimlichen Fähigkeit, seine Gedanken zu lesen, zuckte Nick zusammen. Was wusste sie darüber? »Wie kommst du denn darauf?«, fragte er mit einem unbeabsichtigten Anflug von Schärfe. Polly biss sich auf die Lippe. »Ich weiß nicht, aber du wirkst so geistesabwesend und willst mir nicht den Grund dafür sagen. Ich ... ich dachte deshalb an eine Heirat!« Unvermittelt sprudelten die Worte aus ihr hervor, und sie senkte den Blick, damit er die rasende Angst nicht erkannte, die sich in ihren Augen widerspiegelte. »Eine Heirat!« Wie kam es bloß, dass sie genau wusste, was ihm durch den Kopf ging? Aber dies war nicht der richtige Augenblick, um ein solches Thema in all seiner Komplexität zu besprechen. Nicht jetzt, da er in das von irgendeinem Unbekannten gewobene Netz verstrickt und gezwungen war, Entscheidungen zu treffen, die weit reichende Konsequenzen für ihrer beider Leben haben konnten. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, fragte Nicholas leicht gereizt. »Wenn ich denke, dass es Zeit ist, über eine Heirat zu sprechen, werde ich dich gewiss in der gebührenden Art und Weise davon unterrichten.«
»In diesem Fall werde ich mir wohl einen anderen Gönner suchen müssen«, entgegnete Polly, die sich nicht länger zurückhalten konnte. Nachdem sich das Ungeheuer nun einmal gezeigt hatte, wollte es sich nicht so ohne weiteres wieder in seine Höhle zurückziehen.
Mit einem müden Seufzer schloss Nick die Augen. Warum, zum Teufel, fing sie nun ausgerechnet jetzt wieder mit diesem albernen Spiel an? Brachte sie nicht mehr Verständnis für seine tief schürfende Erschöpfung auf, für seine schrecklichen Ängste? Nicholas hörte aus Pollys Stimme nur den Trotz heraus statt die Besorgnis, die sie damit zu überspielen versuchte; er sah ihre Blässe, deutete sie aber lediglich als Übermüdung. »Rede doch nicht so einen Unsinn daher«, entgegnete er knapp. »Mir scheint, dir fehlt ein wenig gesunder Menschenverstand. Du warst doch schon vor vier Stunden müde, aber statt ins Bett zu gehen, verbringst du die halbe Nacht in seichtem Geschwätz mit dem Dienstmädchen.«
»Ich dachte, genau das wäre der Grund, warum Susan hier wohnt«, entgegnete Polly hitzig. »Damit ich jemanden habe, mit dem ich mich in seichtem Geschwätz ergehen kann!«
»Ich treffe eben auch nicht immer die richtigen Entscheidungen«, schoss Seine Lordschaft giftig zurück, »besonders nicht, wenn es dich angeht. Du gehst jetzt sofort zu Bett!«
»Und ich lasse mir von dir keine Befehle erteilen«, erklärte
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