Lockruf Der Leidenschaft
Polly, wütend über diesen scheinbar aus dem Nichts kommenden Angriff.
Nicholas seufzte. »Polly, ich bin erschöpft, zu erschöpft, um mich mit dir zu streiten. Geh zu Bett oder lass es bleiben, ganz wie du willst.«
»Richtig, ganz wie ich will!« Damit knallte Polly die Schlafzimmertür hinter sich zu und kroch unter die Steppdecke, um schließlich mit tränennassen Wangen und dem Geschmack von Salz auf den Lippen in Schlaf zu versinken.
Nicholas blieb noch eine Weile am Kamin sitzen, wo ihm Tabak und Wein scheinbare Entspannung schenkten. Schließlich ging er ebenfalls zu Bett, schob einen Arm unter die schlafende Polly und rollte sie in seine Umarmung, ehe auch er in einen unruhigen Schlaf fiel.
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19.
Noch in dieser Nacht, in der Stunde vor Sonnenaufgang, wenn der Geist seine tiefste Ruhe erfährt und die Trostlosigkeit der Nacht den Höhepunkt ihrer Macht erreicht, kamen sie, um Lord Kincaid zu holen. Es hämmerte an der Haustür, jemand rief laut: »Im Namen des Königs, öffnet!« Überall entlang der Drury Lane wurden Fensterläden aufgerissen. Mr. Benson, noch in Nachthemd und Schlafmütze, erhob sich eilig aus dem Bett und schob vor Kälte und Furcht zitternd die Türriegel zurück.
Energisch drängte sich der Leutnant an ihm vorbei, gefolgt von einer Truppe von sechs Soldaten. »Wir sind gekommen, um Lord Kincaid mitzunehmen. Wo finden wir ihn?« Benson deutete schlotternd und stumm vor Angst zum Ober-geschoss.
Die Hand auf seinen Schwertknauf gelegt und immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte der Leutnant die Treppe hinauf und stieß die Tür zu dem in Dunkelheit liegenden Salon auf. Er durchquerte das verlassene Zimmer und riss die Tür zum Schlafgemach auf. »Mylord Kincaid?«, rief er in die Dunkelheit hinein, während sich seine Soldaten hinter ihm drängten.
Nick hatte das Hämmern gehört und gerade noch Zeit gehabt, sich darüber klar zu werden, was vor sich ging, aber nicht genug, um sich darauf vorzubereiten. Er griff nach Feuerstein und Zunderbüchse, um die Kerze neben seinem Bett zu entzünden. Polly saß aufrecht in den Kissen, die Augen weit aufgerissen vor Entsetzen und Unverständnis. Ihr zerzaustes Haar vermochte kaum ihre nackten Brüste zu verbergen, als ihr die Steppdecke bis zur Taille rutschte. Schlagartig richteten sich die Augen sämtlicher Eindringlinge auf diese elfenbeinfarbene, mit rosigen Spitzen versehene Perfektion. Nicholas packte die Decke und zog sie rasch wieder nach oben. »Die brauchst du wohl«, sagte er ruhig. »Welchem Umstand verdanke ich dieses Vergnügen, Gentlemen?«, fragte er und zog sarkastisch die Braue hoch.
»Ihr seid Lord Kincaid?« Der Leutnant trat ans Bett, die Hand noch immer auf seinem Schwertgriff ruhend, wenngleich der Mann dort im Bett sowohl unbewaffnet als auch nackt war. »Genau der bin ich«, erklärte Nicholas mit einer ironischen Kopfbewegung.
»Was geht hier vor?« Endlich hatte Polly ihre Stimme wieder gefunden. Sie presste sich die Decke an die Kehle und beobachtete diese Szene, die ihr wie der Albtraum eines Wahnsinnigen erschien.
»Ruhig, Liebes«, befahl Nick freundlich, doch eindringlich. »Du sagst überhaupt nichts.«
»Ich habe hier einen Haftbefehl, um Euch festzunehmen, Mylord«, hob der Leutnant an. »Ihr habt Euch unverzüglich in den Tower zu begeben. Dort wartet Ihr auf die Anklage.«
»Wer hat den Befehl dazu gegeben?«, fragte Nick mit immer noch ruhiger, beherrschter Stimme.
»Seine Gnaden von Buckingham hat den Haftbefehl im Auftrag des Königs unterschrieben«, lautete die prompte Antwort.
»Und die Anklage?« »Verrat, Mylord.«
Polly schnappte nach Luft. »Aber das ist -«
»Halt den Mund!«, fuhr Nick sie an. »Darf ich den Befehl sehen, Leutnant?«
Polly gehorchte, als ihr aufging, dass sie still sitzen bleiben und aufmerksam zuhören musste. Denn nur so erfuhr sie unter Umständen die Lösung des Rätsels. Das Ganze war doch bestimmt nur ein Versehen. Nick würde den Haftbefehl lesen und lachen, weil er in Wirklichkeit auf einen ganz anderen Lord Kincaid ausgestellt war. Aber Polly wusste, dass es kein Versehen war. Nachdem Nick das Dokument sorgfältig geprüft hatte, reichte er es dem Leutnant wortlos, und der kleine, eisige Flecken in Pollys Herz wurde mit einem Mal immer größer, bis sie nur noch eine riesige, Furcht einflößende Leere spürte.
»Erlaubt Ihr mir noch einen kurzen Augenblick der Ungestörtheit, um mich anzukleiden, Leutnant?«, bat Nicholas höflich.
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