Lockruf Der Leidenschaft
Leutnant wollte ihn zurückhalten und legte ihm eine Hand auf die Schulter, die Nicholas mit einem wüsten Fluch abschüttelte. Der Leutnant zog sein Schwert, doch in genau diesem Augenblick kam auch Polly wieder zur Besinnung.
Sie sprang aus dem Bett, die Steppdecke fest umklammert haltend, ihre Augen wieder von Leben erfüllt, als das Blut heiß und rasch durch ihre Adern pulsierte. »Ich werde nicht den Mut verlieren, Liebster«, erklärte Polly mit fester Stimme und lief auf ihn zu, wobei sie in ihrer Eile über die Tagesdecke stolperte. »Mach dir um mich keine Gedanken. Du brauchst jetzt all deinen Verstand und deine Energie für dich selbst.« Damit wandte Polly sich zu dem Leutnant um, reckte energisch das Kinn und blickte ihm fest in die Augen. »Sir, steckt Euer Schwert zurück. Man zieht seine Waffe nicht gegen einen unbewaffneten Mann und eine Frau«, erklärte sie mit eisigem Spott.
Nicholas entspannte sich wieder. »Bravo, Liebes«, murmelte er bewundernd. »Dann tust du also, worum ich dich gebeten habe?«
»Ja«, antwortete Polly gefasst. »Mach dir um mich keine Sorgen.« Sie ignorierte die Wache, die ihr Schwert mittlerweile wieder in seine Scheide hatte zurückgleiten lassen, aber nun ungeduldig mit den Füßen zu scharren begann. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um Nick zu küssen. »Ich werde dich schon bald wieder bei mir haben, Liebling.«
Dann verließ Nicholas sie. Es war ein kurzer Abschied, und tief in seinem Inneren wusste er, dass dies der letzte Abschied gewesen sein könnte.
Polly lief zum Fenster des Salons und blickte hinab auf die dunkle Straße, wo bereits eine geschlossene, nicht gekennzeichnete Kutsche wartete. Der Leutnant und sein Gefangener stiegen hinein, während sich die Truppe auf ihre Pferde schwang. Dann machte sich die unheilvolle Prozession auf den Weg zum Tower, aus dem so viele nie wieder zurückkehrten. Für eine kurze, schreckliche Sekunde sah Polly im Geiste bereits das Schafott auf dem Tower Hill vor sich, sah den Henker mit seiner Axt, hörte die lachende und johlende Menge, die gekommen war, um diesem Ereignis beizuwohnen. Polly sah Nick, der mit zurückgebundenem Haar und geöffnetem Hemdkragen seinen nackten Hals auf den Richtblock legte. Wieder drohte die lähmende Angst sie zu umschlingen. Dies war einfach keine Welt, in der man sich auf die Gerechtigkeit berufen konnte. Die Gerechtigkeit war vielmehr ein Instrument aus Wachs, das von jenen, die die Macht dazu besaßen, ganz nach Belieben geformt werden konnte. Und George Villiers, der Herzog von Buckingham, besaß genau diese Macht.
Schließlich verebbte die Angst wieder, und an ihre Stelle trat eine kalte Entschlossenheit. Sie würde sich als Erstes mit Richard besprechen, schließlich hatte Nick sie darum gebeten. Aber wenn De Winter nicht zustimmen sollte, sie in dem zu unterstützen, von dem Polly wusste, dass es getan werden musste, würde sie sich ganz allein ans Werk machen.
Eilig zog Polly sich an und hastete die Treppe hinab. In dem Augenblick, als sie die Hand auf die Türklinke legte, kamen die Bensons aus dem hinteren Teil des Hauses. »Wo haben sie Mylord denn hingebracht?«, fragte Mr. Benson, dessen Gesicht kalkweiß im Schein der Kerze wirkte, die er in der Hand hielt. »Zum Tower«, erklärte Polly kurz. »Ihr braucht keine Angst zu haben. Es ist nichts Schlimmes und wird sich gewiss bald aufgeklärt haben.«
»Aber er ist doch in unsrem Haus gewesen«, stöhnte die Hauswirtin, deren Schlafmütze ein wenig schief auf den dünnen grauen Löckchen saß, und tupfte sich mit einem Taschentuch die Lippen ab. »Als Nächstes kommen die noch und holen uns!«
»Unsinn!«, fuhr Polly sie an, denn wenngleich sie die Angst der Bensons durchaus verstand, so hatte sie im Augenblick keine Zeit dafür. »Ihr werdet bestimmt nicht verleumdet. Warum sollte der Herzog von Buckingham sich mit Leuten wie Euch beschäftigen?«
Und in der Tat, keinem der Bensons fiel ein einziger Grund ein, sodass ihre Besorgnis sich wieder ein wenig legte. Polly hatte keine Zeit für weitere Diskussionen. Sie ließ die Bensons am Treppenabsatz stehen und trat in die Kälte und das graue Dämmerlicht des Wintertages hinaus. Richard lebte in einem prächtigen Haus in der St. Martin's Lane. Nach höchstens zehn Minuten hatte Polly ihr Ziel erreicht und betätigte energisch den großen Türklopfer. Es interessierte sie nicht im Geringsten, dass sie mit dem Gehämmer den gesamten Haushalt weckte. Scharrend wurden die
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