Lockruf Der Leidenschaft
Riegel zurückgezogen, und in der Tür erschien ein verschlafener, empörter Page, der sich in der eisigen Luft fröstelnd die Hände rieb. »Was wollt Ihr zu dieser unchristlichen Stunde?« »Ich will zu Mylord De Winter«, erklärte Polly kurz angebunden und schob sich an ihm vorbei in die Halle. »Bitte sag ihm, dass Mistress Wyat ihn zu sprechen wünscht.«
Der Page sah aus, als wolle er dieser gebieterischen und erbosten Forderung sogleich nachkommen, als Richard auf der Treppe erschien, aufgeschreckt durch Pollys energisches Klopfen und mit einem warmen, mit Pelz gefütterten Morgenrock gegen die morgendliche Kälte bekleidet.
»Nanu, Polly! Was ist passiert?« Eilig kam er in die Eingangshalle. »Nein, erzähl es mir lieber im Salon. Bursche, schür das Feuer, und dann bring uns etwas heiße Milch!« De Winter schnipste mit den Fingern vor dem verwirrten Jungen, der daraufhin gehorsam davoneilte. »Du bist ja durchgefroren bis auf die Knochen. Bist du etwa den ganzen Weg von der Drury Lane zu Fuß gegangen?«
»Ja«, sagte Polly, in deren Stimme ein Hauch Ungeduld mitschwang. »Aber wir haben jetzt keine Zeit für Kaminfeuer und heiße Milch, Sir -«
»Wir haben sogar ausreichend Zeit für beides, Kind«, unterbrach Richard sie mit ruhiger Stimme. »Wenn du älter wirst, wirst du noch lernen, dass es nur wenige Dinge gibt, die nicht auf eine heiße Milch und ein Feuer warten könnten.«
»Aber sie haben Nick mitgenommen!«, schrie Polly.
»Ja, das war zu erwarten. Aber warte, bis wir ungestört sind, ehe du mir die genaueren Umstände erläuterst.« Polly fügte sich. Sie besaß einfach nicht die Kraft, um gegen De Winters Mauer kühler Unberührtheit anzurennen. »Ihr habt damit gerechnet?« Polly ließ sich in den kleinen, mit Bücherregalen gesäumten Salon im hinteren Teil des Hauses führen, wo im Kamin ein wärmendes Feuer prasselte. »Ja, aber wir hatten uns verschätzt. Wir dachten, dass wir noch den Grund herausfinden würden, warum Nick in Ungnade fiel, um uns eine geeignete Strategie überlegen zu können.« Richard trommelte mit den Fingern auf die geschnitzte hölzerne Kaminummantelung und starrte in die Flammen. »Er wurde in den Tower gebracht?« »Ja.« Erschöpft setzte Polly sich auf einen mit Leder bezogenen Stuhl neben dem Feuer. »Vor etwa einer halben Stunde. Er hat gesagt -« Sie verstummte, als die Tür aufging und der Bursche mit einem dampfenden Krug und zwei Tassen hereinkam, die er auf dem Tisch abstellte. »Das wäre alles, M'lord?«
»Für den Augenblick, ja«, entgegnete Richard und trat an den Tisch. Er goss etwas Milch in eine der Tassen und gab einen Schuss Brandy aus der Karaffe hinzu. »Trink das, Polly. Das weckt deine Lebensgeister.« Dankbar nahm sie die Tasse entgegen, wärmte ihre durchgefrorenen Hände daran und schilderte De Winter, was vorgefallen war, wobei sie sorgfältig Nicks Worte wiederholte.
»Dann ist das also Buckinghams Werk«, überlegte Richard, als sie geendet hatte. »Aber warum?« Misstrauisch musterte er Polly, auf deren unbewegtem Gesicht ein eigentümlicher Ausdruck lag. »Weißt du etwa, was all das zu bedeuten hat, Polly?« »Ich glaube schon«, entgegnete sie.
»Woher?« De Winter wartete gespannt darauf, was dieses hübsche Geschöpf wohl zu sagen hatte. Schon in der Vergangenheit hatte sie bewiesen, dass sie von rascher Auffassungsgabe war, dass sie ein Gespür für das Wesentliche besaß und in der Lage war, aus einer Flut von Informationen und Eindrücken genau jene herauszufiltern, die von besonderer Bedeutung waren.
»Der Herzog von Buckingham hat mir versprochen, nein, hat mir gedroht, dass er meinen Preis schon noch herausfinden würde«, erklärte Polly und starrte wie gebannt in ihre Tasse. »Und es scheint, als ob ihm das nun gelungen sei.«
De Winter pfiff leise durch die Zähne. »Du glaubst also, dass er Nick deshalb angeklagt hat?«
Polly zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir sogar sicher. Aber lasst mich Euch erst erzählen, was sich zwischen uns in Wilton House ereignet hatte.«
Richard lauschte ihr aufmerksam. »Buckingham ist ein gerissener Mistkerl, meine Liebe. Sogar noch viel gerissener, als du es bist.« Er beugte sich vor, um das Feuer zu schüren. »Ich möchte, dass du zunächst einmal nichts unternimmst, bis ich Gelegenheit hatte, mich ein wenig zu informieren. Vielleicht hast du ja Unrecht, und das Ganze bedeutet im Grunde gar nichts. Vielleicht verliert der König ja bald sein Interesse, sodass man ihn
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