Lockruf Der Leidenschaft
ihr wieder ein, wo sie war und warum. Ganz offensichtlich war es an ihr, etwas zu tun. Instinktiv hob sie eine Hand, um Nicholas' Lippen zu berühren, und ihr Mund verzog sich zu einem warmen, einladenden Lächeln.
Doch das war das Lächeln, das Nicholas auch in der Schenke »Zum Hund« gesehen hatte - ein aufreizendes Lächeln voller sinnlicher Versprechungen. Er wich so abrupt zurück, als hätte er sich verbrannt. Diese Polly war nicht die Frau, die ihn erregte - oder zumindest kein echtes Verlangen in ihm entfachte. »Was, in Teufels Namen, machst du hier? Was fällt dir ein?« Als Polly den Arm gehoben hatte, war die Decke hinuntergerutscht und hatte ihre vollen, im Mondlicht schimmernden Brüste entblößt, deren Spitzen sich an der kalten Luft zusammenzogen. Mit einem wütenden Fluch schwang Nicholas sich aus dem Bett, riss die Decke fort und zerrte Polly auf die Füße. Polly, vollkommen verwirrt, stand einfach nur da, blinzelnd und zitternd, als die Kälte ihre noch bettwarme Haut umfing. »Ich verstehe nicht«, sagte sie mit bebender Stimme. »Warum seid Ihr denn so wütend? Ich will mich Euch doch bloß hingeben. Inzwischen bin ich auch ziemlich sauber, sodass Ihr Euch bestimmt nichts einfangen werdet.«
»Gütiger Gott!« Wenn er jetzt auch noch in diese Augen blickte, war er endgültig verloren. Oder war ihre Naivität etwa nur gespielt? Zumindest war es leichter, für den Moment davon auszugehen, da der Zorn sein unwillkommenes Verlangen nach ihr erlöschen ließ. »Wenn du vielleicht einmal die Kniffe einer gewöhnlichen Hure vergessen könntest und lernen würdest, dich ein wenig taktvoller zu geben, wäre das Angebot durchaus verlockend gewesen«, entgegnete er, jedes einzelne Wort wohl abgewogen, um sie zu verletzen. »Denn wenn ich eine Hure wollte, dann wüsste ich schon, wo ich sie finden könnte.« Nicholas hob ihr Nachthemd auf. »Zieh das an und geh wieder nach oben. Und wage es nicht, noch einmal ohne Aufforderung hier einzutreten.« Eilig wandte er sich von ihr ab, um nicht mit ansehen zu müssen, wie sich Schmerz und Verwirrung auf ihrem Gesicht abzeichneten, stieg zurück ins Bett und zog mit einem Ruck die Vorhänge zu.
Wie betäubt zog Polly wortlos ihr Hemd wieder an, schlich aus dem Zimmer und zog leise die Tür hinter sich ins Schloss.
Als Nicholas das Schließen des Schnappriegels gehört hatte, ließ er den Schwall lästerlicher Flüche, den er nur mit größter Anstrengung unterdrückt hatte, ungehindert über seine Lippen sprudeln. Er hatte Richard gesagt, er würde zunächst die Leidenschaft in Polly entfachen, ehe er sich gestattete, sein eigenes sinnliches Verlangen zu stillen. In der simplen Befriedigung seiner Bedürfnisse wurden schließlich noch keine Fesseln der Liebe geschmiedet, darüber hinaus war er nicht so dumm, die Geste, mit der Polly ihm ihren Körper angeboten hatte, für irgendetwas anderes als einen pragmatischen Tauschhandel zu halten. Wenngleich Nicholas allerdings nicht wusste, was sie im Austausch dafür zu erlangen trachtete. Doch selbst wenn er sie eines Tages nehmen sollte, wäre es nicht die Schankkellnerin mit dem einladenden Lächeln, die er in die Liebe einzuführen gedachte. Nein, es sollte Polly sein.
Polly in all ihrer Schönheit und Unschuld. Polly mit dem spitzbübischen Lächeln und dem gewitzten Verstand. Und sie würde sich seine Liebe um ihrer selbst willen wünschen und nicht wegen dem, was sie sich damit alles erkaufen könnte. Doch bis dahin würde er sowohl Polly als auch sich selbst noch im Zaum halten müssen. Doch Nicholas verzehrte sich nach Polly, spürte noch immer ihre Wärme in seinem Bett, den Druck ihres Körpers gegen den seinen, konnte sie noch immer nackt im Mondlicht vor sich stehen sehen. Reglos lag er da und starrte in die Schatten zwischen den Bettvorhängen. Es würde eine sehr lange Nacht werden.
Polly hatte das Gefühl, sich erst vor wenigen Minuten auf ihre Pritsche gelegt zu haben, als die große Glocke durch das Haus schallte. Unter Stöhnen und Verwünschungen kamen ihre Kolleginnen in der Mansardenkammer zu sich, und Bridget entzündete die Kerze, in deren schwachem Schein sie sich ankleideten und mit tauben Fingern durch die Kälte tasteten. Pollys Schweigen fiel in dem allgemeinen mürrischen Gemurmel niemandem auf, und als sie in der Küche waren, gab es viel zu viel zu tun, als dass sie sich noch hätten unterhalten können. Der Morgen zog sich endlos dahin. Die Küche ähnelte einem Hochofen, und der
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