Lockruf Der Leidenschaft
Dampf aus den brodelnden Waschkesseln waberte durch die Luft, sodass das andere Ende des Raumes kaum zu erkennen war. In Pollys Nase schien es nur noch die Gerüche von Seife und Plätteisen zu geben. Nach ihrer nahezu schlaflosen Nacht war es, als hätte sie jeglichen Kontakt zur physischen Realität verloren. Sie bewegte sich wie in Trance, stieß gegen Tische und Stühle und hätte einmal sogar beinahe einen schweren Kessel mit kochendem Wasser fallen lassen. Danach hatte Bridget sie abkommandiert, in einer Wanne Laken zu schrubben, was sie für den Rest des Morgens getan hatte. Auf den harten Steinplatten kniend, wo sie keine Gefahr für sich und andere mehr darstellte, hatte sie gescheuert und geschrubbt, bis ihre Hände rot und verschrumpelt waren.
Nach dem Mittagessen wurde gebügelt, Wäsche zusammengelegt und gestopft. Polly bewegte sich wie eine Schlafwandlerin. Noch nicht einmal während der schlimmsten Tage in der Schenke war sie so erschöpft gewesen wie jetzt. Während der Abendgebete war sie sogar eingeschlafen, und nur Susans rascher Stoß in die Seite hatte sie vor Lady Margarets Zorn bewahrt. In dieser Nacht schlief sie wie eine Tote, und noch nicht einmal ihre Schmach hatte diese bleierne Benommenheit noch durchdringen können.
Doch am nächsten Morgen kehrte die Scham in all ihrer grausamen Realität zurück, und Polly betete, ihre Pflichten mögen sie wieder an die Küche fesseln, damit sie nicht gezwungen war, die Verachtung in Nicholas' smaragdgrünen Augen zu sehen.
Nach dem Mittagessen jedoch erwartete Nicholas Polly in seinem Salon, um ihr eine weitere Unterrichtsstunde zu erteilen. Seit diesem hässlichen Zwischenfall hatte er sie weder gesehen noch etwas von ihr gehört, und er ertappte sich bei dem erschreckenden Gedanken, dass sie einfach gegangen sein könnte. Es gab zwar niemanden, an den sie sich hätte wenden können, doch in dieser Hinsicht hatte Polly sich ja schon einmal als höchst einfallsreich erwiesen. Nicholas zog an der Klingelschnur und ging unruhig im Raum auf und ab. Kurz darauf erschien Jung-Tom. »Ihr habt nach mir verlangt, M'lord?« »Nein. Eigentlich möchte ich Polly sehen. Ist sie im Haus?«
»Zur Essenszeit war sie es noch, M'lord«, antwortete der Junge mit einem fröhlichen Grinsen. »Soll ich sie für Euch holen?«
»Wenn du so freundlich wärst«, entgegnete Seine Lordschaft kühl.
Als Polly hörte, dass Lord Kincaid sie sehen wollte, durchforstete sie ihr Gedächtnis fieberhaft nach einer Ausrede. Sie musste noch den Keller auswischen, die Töpfe schrubben ...
»Er wartet schon auf dich«, fügte Tom hinzu, als Polly immer noch zögerte. »In seinem Salon.«
»Oh, also gut.« Es schien wohl kein Weg daran vorbeizuführen. Polly wischte die Hände an ihrer Schürze ab und eilte in die Halle. Dieses Mal klopfte sie an der Salontür an.
»Komm herein.« Nick blickte von der Bibel auf, die er auf dem Tisch aufgeschlagen hatte, und lächelte Polly an. Doch Polly reagierte nicht darauf, sondern stand in der Tür und starrte auf ihre Füße. »Warum bist du denn nicht zu deiner Unterrichtsstunde erschienen?«, fragte er.
Polly blickte ihn noch immer nicht an. »Ich dachte nicht, dass Ihr es noch wolltet.« Nicholas seufzte. »Warum sollte ich es denn nicht mehr wollen, Polly?« »Gewöhnliche Huren lernen nicht lesen.«
»Komm endlich herein und mach die Tür zu!« Nicholas wartete, bis Polly seiner Anweisung gefolgt war. »Ich weiß, dass ich etwas grob war, Polly, aber mit deinem Verhalten hast du mich in eine unmögliche Situation gebracht«, fuhr er etwas sanfter fort. »Du musst verstehen, dass ich auf dein Angebot nicht so ohne weiteres eingehen kann, solange du noch als Mitglied meines Haushaltes unter diesem Dach lebst. Denn es würde nicht nur Lady Margarets Prinzipien in ihren Grundfesten erschüttern -und ich möchte sie auf keinen Fall beleidigen -, sondern auch dein Verhältnis zum Rest der Dienerschaft würde darunter leiden.«
»Das verstehe ich«, erwiderte Polly und hob den Blick. »Und deswegen dachte ich auch, dass ich, sobald Ihr einmal das Bett mit mir geteilt habt, das Haus verlassen und irgendwo anders leben müsste.«
»Hinterhältiges kleines Biest!«, stieß Nicholas hervor. »Das also war es, was du im Sinn hattest! Ich wusste doch, dass du irgendeinen Hintergedanken hast.«
Zu seiner grenzenlosen Bestürzung füllten sich die leuchtenden haselnussbraunen Augen mit Tränen, die lautlos über ihre Wangen kullerten, während
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