Lockruf Der Leidenschaft
sie nur dastand und ihn ansah, ohne Anstalten zu machen, die Tränen fortzuwischen.
»Oh, nein, Kleines, nicht weinen«, rief Nicholas beschwichtigend, trat hinter seinem Tisch hervor und nahm sie in die Arme. »Ich wollte doch nicht unfreundlich sein, mein Liebes.« Die Tränen versiegten so plötzlich, als hätte er den Zapfhahn eines Alefasses zugedreht. Nicholas starrte in das hinreißende, tränennasse Antlitz, während zuerst das Misstrauen in ihm wuchs und sich in Gewissheit verwandelte. Wenn das keine Krokodilstränen gewesen waren! »Gütiger Gott«, murmelte er. »Was habe ich mir bloß ins Haus geholt?«
Hewlett-Packard
5 .
Das Kaminfeuer knisterte, und der vielarmige Kandelaber warf einen hellen Lichtschein auf den Tisch, sodass das satte honigblonde Haar jenes Kopfes, der sich über die große Bibel beugte, noch wärmer leuchtete. Polly bewegte stumm die Lippen, während sie versuchte, die Worte zu entziffern, und zwischen ihren Lippen blitzte immer wieder ihre Zungenspitze hervor. Es war verblüffend und wundervoll, wie sich in kaum vier Wochen ein verwirrendes Durcheinander von Zeichen zu einem logischen Muster zusammenfügen konnte, das einem eine ganz neue Welt erschloss.
»Da scheinen ja eine Menge Zeugungsakte stattgefunden zu haben«, bemerkte sie und blickte zu ihrem Lehrer auf. Nick, der entspannt am Kaminfeuer saß, lachte leise. »Du bist wohl auf eine jener Passagen gestoßen, wie? Das zieht sich manchmal über mehrere Seiten. Warum suchst du dir nicht einfach ein anderes Kapitel?« Nicholas beobachtete über den Rand seines Weinglases hinweg, wie Polly mit grazilen Fingern die zarten Seiten umblätterte. Es war eine Quelle ständiger Verwunderung, wie ein so appetitliches und feingliedriges Geschöpf einem solch ungehobelten und brutalen Umfeld entsprungen sein sollte. Alles, was sie tat, geschah mit einer natürlichen Anmut. »Dieses Wort hier verstehe ich nicht.« Polly legte die Stirn in tiefe Sorgenfalten. »Die Buchstaben ergeben keinen Sinn.«
Nicholas trat hinter sie und sah sich die aufsässige Ansammlung von Buchstaben an, auf die der schlanke, doch mit Tinte beschmierte Zeigefinger deutete. »Das >h< wird nicht ausgesprochen, Herzchen.«
»Oh ... >nah Polly antwortete nicht sofort, und Nicholas drängte sie auch nicht, sondern konzentrierte sich darauf, mit einer schlanken Kerze seine Tonpfeife zu entzünden. »Dann hat sie Euch also davon erzählt«, meinte Polly schließlich und faltete die Hände auf dem Tisch.
»Das hat sie, allerdings.« Nick zog einmal an seiner Pfeife und kniff die Augen zum Schutz gegen den Rauch zusammen. Die Liste von Pollys Verstößen, die Nicholas regelmäßig von seiner chronisch zänkischen Schwägerin erzählt bekam, wurde täglich länger und langweilte ihn zunehmend. »Und wärst du vielleicht auch so freundlich, mir den Anlass dafür zu verraten?«
Angesichts dieser übertrieben höflichen Bitte zuckte ein kleines Lächeln um Pollys Mundwinkel. »Wenn ich um Ausgang gebeten hätte, dann wäre er mir ja sowieso nicht gestattet worden«, lautete die unbestreitbar logische Antwort. »Dann wäre ich gezwungen gewesen, meinen Verfehlungen auch noch den Ungehorsam hinzuzufügen.« »Der ohnehin schon auf der Liste steht«, entgegnete Nicholas trocken. »Aber vielleicht möchtest du mir auch noch verraten, wohin du gegangen bist.« Er musterte sie durchdringend. »Es sei denn, du hast Geheimnisse.« Auf Pollys Wangen erschien ein Hauch von Röte. »Es gibt keine Geheimnisse. Ich hatte einfach Lust, einmal durch die Drury Lane zu schlendern, um mir das Königliche Schauspielhaus anzusehen und vielleicht sogar -« Sie unterbrach sich und zuckte mit den Achseln, als ob sie es sich anders überlegt hätte. »Ich dachte, ich treffe vielleicht Master Killigrew, um mich ihm vorzustellen.«
»Kurz gesagt, du wolltest die Angelegenheit selbst in die Hände nehmen, obwohl wir uns einig waren, dass ich mich am
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