Lockruf Der Leidenschaft
hat.« »Vielleicht hat ja bisher nur noch niemand gesehen, was ich nun sehe«, entgegnete Nicholas, legte einen Daumen unter Pollys Kinn, hob ihren Kopf ein wenig an, während er ihr mit dem Zeigefinger einen kleinen Pastetenkrümel von den Lippen wischte, und neigte sich zu ihr hinab, um seine Lippen sanft auf die ihren zu legen. In den vergangenen Jahren hatte Polly bereits die Aufdringlichkeiten zahlreicher Lippen über sich ergehen lassen müssen -einmal sogar von dem Mann, der ihren Mund nun so sanft und so zart mit dem seinen umfing, der mit der Zungenspitze ihre geschlossenen Lippen liebkoste und ihre empfindsamen Mundwinkel, sodass die Wärme sie wie flüssiger Sonnenschein umschloss.
Langsam hob er den Kopf und lächelte auf ihr errötetes, verdutztes Gesicht hinab. In diesem Moment zerstörte das Hämmern des Türklopfers die Stille, die so reich an Bedeutung gewesen war - noch unausgesprochen und dennoch kurz davor, in Worte gefasst zu werden.
Mit einem Fluch erhob Nicholas sich aus seinem Sessel. Abgesehen davon, dass ihm diese Unterbrechung ganz und gar ungelegen kam, war es für einen Überraschungsbesuch reichlich spät, und die Haustür war bereits vor über einer Stunde abgeschlossen worden. Zudem trug er keinen Gehrock mehr, sondern nur noch Wams und Kniehosen, wie es einem Mann in seinem eigenen Haus wohl zustand, und sein Degen befand sich oben in seinem Schlafzimmer. Lauschend stand er einen Moment lang da, während der Besucher noch ein zweites Mal gegen die Tür schlug. Eine so gebieterische Aufforderung, eingelassen zu werden, und noch dazu zu so später Stunde, konnte in einer Zeit, in der man sich nie sicher sein durfte, wen man zu seinen Freunden zählen konnte, durchaus einen unangenehmen Hintergrund haben.
»Zur Hölle noch mal, Bursche, was hat dich denn so lange aufgehalten?«, dröhnte eine laute Stimme aus der Eingangshalle herüber, als es Jung-Tom endlich gelang, die Riegel vor der Haustür zurückzuziehen. Nicholas lächelte und entspannte sich wieder. »Man kann Charles einfach nicht beibringen, dass er sich hier nicht auf einem Truppenübungsplatz befindet.«
»Ist dein Herr zu Hause, Junge?« Diesmal war es Richards Stimme, die aus der Halle drang. »Richte ihm aus, dass er Besuch hat. Sir Peter Appleby, Major Conway und mich.«
»Ich gehe wohl besser nach oben«, sagte Polly, unsicher, ob ihr Unmut darüber mit dem abrupten Ende dieser neuen, wundervollen Betätigung zu tun hatte, in die Nick sie gerade eben eingeführt hatte, oder damit, dass sie den Rest der Hühnerpastete würde zurücklassen müssen.
Nicholas schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte, dass du bleibst. Auf diese Weise kannst du die Früchte meiner Bemühungen der letzten Wochen demonstrieren.« Damit eilte er zur Salontür und öffnete sie. »Richard, Charles, Peter, ihr seid gerade zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Kommt rein, und wärmt euch ein wenig am Feuer. Ich habe Wein, aber wenn es euch lieber ist, kann Tom euch auch Ale holen.«
»Fürwahr, Ale, bitte«, donnerte der Major. »Himmel, ich bin wirklich so durstig wie eine Trockenerbse.« Die drei Männer, die den Salon betraten, waren in dicke Mäntel gehüllt und brachten mit ihren vom Wind geröteten Wangen und zerzausten Hutfedern eine Ahnung von der eisigen Kälte der Januarnacht mit sich. Polly, die sich nicht ganz sicher war, was Nick mit der Demonstration der Früchte seiner Arbeit meinte, war ebenfalls aufgestanden und neben das Kaminfeuer getreten. »Oh, guten Abend, Polly«, grüßte Richard lächelnd.
»Guten Abend, Lord De Winter.« Anmutig knickste Polly und rief sich ins Gedächtnis, was Nick ihr über die verschiedenen Schichten und die dementsprechende Tiefe des Knickses beigebracht hatte. Allerdings machte sie nicht den kurzen Knicks, wie er einer Küchenmagd angemessen gewesen wäre, sondern entbot die aufmerksame Ehrerbietung einer jungen Dame.
Nicholas lächelte. »Polly, erlaube mir, dich Sir Peter Appleby und Major Charles Conway vorzustellen. Gentlemen ... Mistress Polly Wyat.«
Mittlerweile verstand Polly, was Nicholas mit den Früchten seiner Arbeit gemeint hatte. Er hatte sie seinen Freunden nicht wie seine Küchenmagd vorgestellt, und ganz offensichtlich erwartete man nun von ihr, die ihr zugewiesene Rolle zu spielen. »Gentlemen, ich heiße euch herzlich willkommen.« Damit vollführte sie abermals einen anmutigen Knicks, den die Herren mit der entsprechenden höflichen Verbeugung quittierten. »Darf ich Euch
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