Lockruf Der Nacht
fliege ich zwischen den Bäumen hindurch, als hätte ich nie etwas anderes gemacht. »Wow, das ist einfach großartig. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich schon einmal so fliegen konnte.«
Wir steigen wieder empor und dann sehe ich einen Schwarm riesengroßer schwarzer Vögel auf uns zukommen. Mit lautem Geschrei und Sturzflügen in den Wald kommen sie nach etwa hundert Metern weiter wie Pfeile herausgeschossen, drehen sich und tauchen wieder in dem grünen Meer ab. Ich bleibe besser über dem Wald, um keinen Zusammenstoß mit einem dieser wilden Bande zu verursachen.
Plötzlich verliere ich an Höhe und sehe, dass die Federn an meinen Flügeln weniger werden, wie Blätter an einem Herbstbaum verlassen sie mich und schweben davon. Mich oben zu halten wird immer schwerer. Ich fange an zu purzeln, rufe nach Mo, aber er ist den anderen gefolgt und nirgendwo zu sehen.
Der Wald kommt in rasender Geschwindigkeit auf mich zu. Der Fall ist nicht mehr aufzuhalten. Äste krachen, bohren sich in meinen Körper und schneiden mich. Der Fall dauert unendlich lang, bis ich schließlich auf dem Boden aufpralle. Ich versuche aufzustehen, aber der Schmerz drückt mich nieder und hält mich gefangen.
Drei schattenhafte Gestalten nähern sich mir. Sie reden miteinander, aber irgendwie kann ich sie nicht verstehen. Ihre Stimmen sind so weit entfernt. Ein Rauschen in meinen Ohren übertönt alles. Einer von ihnen geht in die Knie und legt meinen Kopf in seinen Schoß. Ich spüre, wie seine Hand über meine Stirn streichelt. So sanft ist nur Mo, denke ich.
17.
Es ist morgens. Ich habe tatsächlich die ganze Nacht durchgeschlafen. Was für ein Traum. Ich recke mich, als ein heftiges Zwicken in der Seite mich zusammenfahren lässt. Beim Liften meines Nachthemds sehe ich einen roten Punkt, von der Größe eines ein Cent Stückes unter den Rippen. Er tut weh. Den Übeltäter habe ich auch schnell entdeckt. Es ist eine Haarspange. Ich muss wohl die ganze Nacht auf ihr gelegen habe. Stutzig macht mich nur die Form der empfindlichen Druckstelle, denn die Haarspange hat nichts Rundes an sich.
Ich taste nach meinem Traumbuch, um das letzte Abenteuer aufzuschreiben. Dabei fällt mir beim Öffnen ein weißes Rosenblatt entgegen und auf der Seite, wo es lag, steht ein Satz, der meine Haarwurzeln zum Vibrieren bringt: komm zu mir in die Dunkelheit . Das hat Mo zu mir auf meiner `Beerdigung´ gesagt. Wie kommt der Satz hier rein? Meine Handschrift ist es definitiv nicht. Da ich niemandem davon erzählt habe, gibt es nur eine Erklärung dafür. Der Gedanke, dass ich doch nicht alles nur träume, dass Mo tatsächlich hier war, lässt mein Herz wild wie eine afrikanische Buschtrommel schlagen.
Okay, zurück zu meinem letzten Traum. Ich schreibe alles genauestens auf und ende mit dem Satz: Ich sehe drei Schatten über mir stehen.
Unten in der Küche stelle ich die Kaffeemaschine an und murmel drei Namen vor mich hin: »Morpheus, Ikelos und Phantasos.« Waren die drei bei mir?
»Sprichst du wieder mit dir selbst?« Lilith steht vor mir, ihre Haare sind zerzaust, ihre Wangen rosig. Ohne Make-up und nicht zurecht gemacht sieht sie viel jünger aus.
»Kaffee?«
»Na klar.« Gähnend setzt sie sich auf den Barhocker, reibt sich die Augen und als sie wieder hochsieht, schaut sie auf meine Beine. »Mein Gott, hast du heute Nacht gegen Titanen gekämpft oder wer hat dich so zugerichtet?«
Auf meinen Oberschenkeln zeichnen sich Schürfwunden und Schnitte ab und als ich mein Nachthemd hochhebe, sind auf Bauch und Rücken ebenfalls Schrammen zu sehen. Die hatte ich vorhin unter der Decke gar nicht gesehen. »Sieht so aus, als würde ich tatsächlich schlafwandeln. Ich muss die Treppe runtergefallen sein«, gebe ich als Erklärung ab.
Lilith zupft mir ein Blatt aus den Haaren und hält es mir vor die Nase. »Fragt sich nur, wohin du nach dem Fall gelaufen bist?« Sie geht zur Tür und sieht nach, ob sie verschlossen ist. Sie ist es.
Ich heuchle Verwirrung vor, aber wenn ich jetzt allein wäre, würde ich durchs Zimmer hüpfen, johlen und lachen. Das Blatt ist der Beweis, dass es in meinem Traum eine andere Realität gibt. Ich stutze, denn das klingt tatsächlich sehr konfus. Das einzig Wichtige ist: Mo. Denn er ist kein Traumgespinst, keine Illusion. Es gibt ihn und basta .
Lilith sieht mich stumm an und schüttelt mit dem Kopf. »Du brichst dir eines Tages noch das Genick, Leia. Du solltest dein Schlafzimmer nach unten
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