Lockruf Der Nacht
letzten Liaison, einem Kunden, der für fünfhunderttausend Dollar zwei Bilder gekauft hat. Seine Bedingung war, dass Lilith bei der Lieferung dabei sein sollte, damit sie ihn bei der Platzierung beriet. Worauf das Ganze hinauslief, war nicht schwer zu erraten. »Leider verheiratet«, sagt sie und steckt sich mit ölverschmierten Fingern die letzte gepulte Garnele in den Mund. »Und nun zu dir. Wer ist der mysteriöse Mann in deinem Leben? Wer lässt deine Augen so glänzen?«
»Lilith, da gibt es niemanden.«
»Es ist Yven, stimmt´s?«
»Nein.«
»Was hast du an ihm auszusetzen? Er hat Manieren, ist reich, sehr reich und hat sich in Dich verguckt.«
»Aber er ist nicht mein Typ. Da kann ich nichts machen. Es funkt nicht, kribbelt nicht.«
»Gut. Wer ist es dann? Übrigens habe ich gesehen, dass du das Bild in deinem Schlafzimmer aufgehängt hast.«
Sie lässt einfach nicht locker. Bohrt immer weiter. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, um diese lästige Fragerei zu stoppen. Ich höre auf zu essen und sehe ihr mit festem Blick in die Augen. »Es gibt niemanden.«
»Na schön«, sagt sie etwas beleidigt, weil sie weiß, dass ich lüge.
Ich führe schnell das Thema auf die morgige Party, die in den Hamptons stattfinden soll. Es sollen hundert Leute kommen, unter anderem auch die beiden Brüder von Yven, auf die Lilith mehr als gespannt ist. Und ich auch.
Mo ist gekommen und steht an meinem Bett. »Ich würde dir gerne etwas zeigen.« Er sagt das ein wenig geheimnisvoll, sodass er einen Schwachpunkt bei mir trifft. Meine Neugierde. »Was ist es?«
Er öffnet das Fenster und klettert aufs Dach. Bereit, mich nach oben auf die ebene Fläche zu ziehen, erscheint seine Hand in der Öffnung. Der Nachthimmel ist tiefschwarz, nur vereinzelt kann man einen winzigen Stern entdecken, das aber auch nur, wenn man ganz genau und lange auf einen Punkt blickt.
»Sieh her.« Er küsst mich, dann läuft er über das Flachdach, breitet die Arme aus und fliegt über die anderen Dächer hinweg, kommt wieder zurück und kreist über mir. »Los komm zu mir.«
»Aber wie soll ich ...«
»Mach es so wie ich.«
Bin ich lebensmüde? Ich würde wie ein Bleisack unten auf der Straße aufkommen.
»Vertrau mir.«
Im Traum kann ich alles, das habe ich schon mehrmals bewiesen. Also nehme ich Anlauf, breite die Arme aus und bewege sie auf und ab. Früher als Kind habe ich so Flugzeug starten gespielt. Als es nur noch zwei Meter bis zum Dachende sind, kommt Zweifel in mir hoch, aber ich laufe weiter und lass es darauf ankommen. Er ist ja da und ich vertraue ihm. Und tatsächlich, es funktioniert. Ich fliege. Wie kann das sein? Ist es tatsächlich so einfach? Irgendwie traue ich der ganzen Sache nicht. Kaum habe ich das gedacht, als ich auch schon absacke und den Dächern gefährlich nahe komme. Wie wild bewege ich die Arme, schaffe wieder ein paar Meter nach oben zu kommen. Doch dann verläßt mich der Glaube und ich falle und falle, falle immer weiter.
Mo ist plötzlich unter mir und fängt mich kurz vor dem Aufprall auf dem Asphalt auf. Er hält mich fest an sich gedrückt und wir steigen hoch, immer höher, bis die Lichter der Stadt unter uns wie kleine Sterne aussehen.
Ich verberge mein Gesicht an seinem Hals und wünsche mir, dass dieser Flug nie endet und er mich nie wieder loslässt. Kaum habe ich das gedacht, hat er auch schon seine Arme geöffnet.
Wieder fuchtle ich wild mit den Armen herum, falle und drehe mich in der Luft, wie ein junger Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Und dann passiert etwas Wunderbares. Aus meinen Armen werden schwarze, glänzende Flügel und sie tragen mich. Tragen mich über das Land. Wir überfliegen Berge, die ich noch nie gesehen habe, Wälder, die aussehen, als wären sie mit Lametta überzogen und Seen, in deren Tiefe seltsame blaue Lichter funkeln. Es ist ein berauschendes Gefühl, das Gefühl von endloser Freiheit. Ich strecke mein Gesicht dem Wind entgegen und nehme jeden seiner ungestümen Atemzüge in mich auf. »Mo, wo sind wir? Das ist ja wunderschön. Nur ein bisschen dunkel hier.«
»Deshalb ist es auch das Reich der Schatten oder das Land der Nacht.«
Wir gehen tiefer, gleiten über die Baumkronen hinweg und als der Wald sich etwas lichtet, fliegen wir direkt hinein. Hier unten ist es taghell. An den Bäumen hängen silberne, glänzende Früchte, die den ganzen Wald erhellen. Mo ist schon ein ganzes Stück weiter. Ich lache vor Glück und jage hinter ihm her. Geschickt
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