Lockruf Der Nacht
verlegen.«
Seit über einer Stunde stehe ich in meinem Ankleidezimmer und überlege was ich anziehen soll. Wenn ich mir am wenigsten Gedanken mache, habe ich sofort den richtigen Fummel in der Hand. Doch heute habe ich das Gefühl, besonders gut aussehen zu müssen, weil etwas Megawichtiges im Anmarsch ist und ich stehe da in meinem roten Kleid und es sieht bescheuert aus. Ich sehe bescheuert aus.
Noch einmal gehe ich meine fünf Stangen, die zum Bersten mit Klamotten vollhängen, durch. Zu lang, zu kurz, zu winterlich, zu sommerlich, zu bunt, zu langweilig, zu ausgeschnitten, zu … keine Ahnung. Das Einzige, das stimmt ist meine Unterwäsche. Man muss für jeden Ernstfall präpariert sein . Eine andere Weisheit meiner Großmutter. Stell dir vor, du wirst ohnmächtig und du hast einen löchrigen oder ausgeleierten alten Schlüpfer an . Sie war diejenige, die mich alle halbe Jahre in einen Wäscheladen geschleppt und mich mit exklusiver Unterwäsche ausstaffiert hat.
Meine Unterwäsche ist aus feiner Spitze, Farbe: Crème und sieht sexy aus. Ich kann also auch tot umfallen und sehe auf dem Leichentisch noch gut aus.
»Sag mal, was treibst du da drin eigentlich?« Lilith steht im Türrahmen und sieht bombastisch gut aus. Ihr orangefarbenes Kleid sitzt wie angegossen, ihre lila Schuhe, der Schal, die Tasche, einfach perfekt.
»Du siehst super aus«, gebe ich offen zu und hoffe nicht, dass etwas Neid mitschwingt. Ich bin nie neidisch, aber wenn ich nicht weiß, was ich anziehen soll, wird es kritisch in meinem Kopf.
»Das kann doch nicht wahr sein? Was suchst du denn noch? Das Kleid sieht ganz bezaubernd an dir aus.«
»Bezaubernd! Das ist definitiv das falsche Wort, Lilith. Du hättest sagen sollen: umwerfend. Aber es sieht scheiße aus.«
»Gut, wenn du dich nicht wohlfühlst, muss etwas anderes her. Wollen mal sehen …« Sie macht das Gleiche wie ich vor fünf Minuten und schiebt Kleidungsstücke hin und her. Von links nach rechts, von rechts nach links und holt Kleider daraus hervor. Sie legt sie in die Mitte auf einen Hocker, der meistens überquillt von gewaschenen Sachen, die ihren Weg noch nicht zurück auf den Bügel oder ins Regal gefunden haben.
Zu romantisch, zu alt, mag ich nicht, will ich nicht, blöd, hässlich, langweilig, unsexy … Vor mir liegen an die zehn Kleider, die ich mal umwerfend an mir fand und in die mich jetzt, heute, keine zehn Pferde mehr reinkriegen würden. Trotzdem hängen sie in meinem Schrank, nehmen Platz weg und füttern die Motten und das nur, weil die Teile nicht wenig gekostet haben.
»Leia! Entscheide dich endlich, bevor ich mein Kleid noch durchschwitze.« schreit Lilith hysterisch.
»Na schön, ich lasse das rote Kleid an. Wo sind die Schuhe?«
18.
Nach mehr als vier Fahrstunden kommen wir endlich in den Hamptons an. Auf dem Zufahrtsweg bis vor die Haustür stehen bereits rechts und links parkende Autos, vom Beetle bis zum Maserati ist hier alles vertreten.
Lilith setzt fluchend mit ihrem Porsche einige Hundert Meter zurück, bis wir den Wagen abstellen können. »Ich werde mir meine neuen Schuhe ruinieren«, schimpft sie und drapiert sich ihren Schal um die Schultern.
Ich habe in der letzten Stunde vor lauter Stress pochende Kopfschmerzen bekommen und durchsuche meine Tasche nach einer Tablette. »Mist.«
»Was ist?«
»Ich habe eigentlich immer Kopfschmerztabletten dabei, aber …«
»Hier … frag Dr. Lilith.« Sie kramt in ihrer kleinen, neuen, lila Tasche herum und reicht mir eine kleine weiße runde Tablette.
Ich bin kein Freund von Tabletten, aber auch kein Freund von Schmerzen. Große Veranstaltungen und Partys, auf denen ich keine Sau kenne, sind mir verhasst. Es kostet mich immer ein klein wenig Überwindung hinzugehen. Und bis ich ein sicheres Plätzchen gefunden habe, wo ich alles überschauen kann, hat es für mich etwas von einem Spießrutenlauf. Über die Jahre habe ich zwar ein wenig Übung darin bekommen, mich souverän durch die Menge zu bewegen, aber ein Vergnügen ist das nicht. Vor lauter innerem Stress passieren dann gerne mal kleine Missgeschicke, wie Stolpern vor aller Augen, Gläser auf anderer Leute Kleider ausschütten oder gegen geschlossene Glastüren laufen.
Lilith hingegen ist da ganz anders, sie mag, nein sie liebt solche Art von Auftritten. Besonders wenn sie eine Party betritt und alle sich nach ihr umdrehen. Bei dem Gedanken stehen mir jetzt schon die Haare zu Berge.
Das hübsche alte Holzhaus liegt direkt am
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