Lockruf Der Nacht
Strand. Ich kann das Meer schon riechen. Die Haustür ist sperrangelweit offen und davor stehen ein paar Gäste. Junge Leute, die sich eine Zigarette genehmigen und uns beobachten, wie wir staksend und etwas unelegant über den Sandweg kommen. Sie tragen im Gegensatz zu uns legere Freizeitkleidung. Das fehlte mir noch, overdressed auf einer Party zu erscheinen, wo ich keinen kenne. Das ist das Gleiche, als ob man als Michael Meyers mit Kettensäge in die Oper geht.
Wir gehen durch eine schmale Diele und kommen in einem gemütlichen Wohnzimmer raus. Die Möbel sind schlicht in weiß und blau gehalten und vermitteln einem sofort das Gefühl von Sonne, Strand und Meer. Draußen auf der Terrasse wimmelt es von Menschen wie in einem Ameisenhaufen. Ich atme kurz durch und lasse Lilith den Vortritt, als zwei junge Männer eine alte Waschtonne mit Eis an uns vorbeitragen und uns von oben bis unten beäugen. Der Blick sagt alles: Wo kommen die aufgedonnerten Hühner denn her.
Ich scanne die Lage mit einem Blick ab. Die meisten Gäste sitzen hier auf der Terrasse, auf der Mauer, die um das Grundstück gezogen ist oder um den Pool auf Liegestühlen. Sie trinken Bier und Cocktails und alle sehen uns an. Nicht ein bekanntes Gesicht ist dabei. Anscheinend langweilen sie sich, sind noch nicht betrunken genug oder warten auf ein Highlight, deshalb lassen sie sich von Neuankömmlingen noch ablenken.
»Wo ist denn Yven?«, fragt Lilith in die Runde.
»Noch nicht da«, antwortet einer der Jungs, der die Tonne getragen hat, und stellt Flaschen in das Eis. »Ist sicher auf dem Weg. Hier, wollt ihr ein Bier?«
Ich greife nach einem, obwohl ich Bier verabscheue, und halte die nasskalte Flasche fest umschlossen.
»Ist er nicht der Gastgeber?«, fragt Lilith und nimmt mir die Frage vorweg.
»Nein, das ist Sheena. Er hat nur das Haus zur Verfügung gestellt.«
Das Haus ist eine Baracke im Vergleich zu dem Apartment am Central Park. Aber wahrscheinlich brauchen solche Leute auch mal Bescheidenheit und einfache Dinge um sich herum.
»Und wo ist Sheena?«
»Sie holt noch ein paar Getränke.«
Ich sehe zu Lilith, sie zuckt mit den Schultern, nach dem Motto: Ist doch egal, Hauptsache Party, und setzt sich, die Beine übereinandergeschlagen, auf einen Mauervorsprung.
Hinter dem Garten mit dem Pool fängt das Meer an. Ich gebe Lilith ein Zeichen, dass ich mal kurz verschwinde, nehme meine Schuhe in die Hand und laufe den Sandweg runter zum Strand. Die Luft ist frisch und feucht, ein leichter Wind weht und der Sand massiert meine vom Winter empfindlich gewordenen Fußsohlen. Eine ganze Weile lausche ich den Wellen, die sich am Strand überschlagen und in ovalen Formen den Strand befeuchten, und sehe dem Meer zu, wie es während der untergehenden Sonne immer dunkler wird. Am Ende wird es schwarz sein wie die Flügel aus meinem Traum.
Als ich wieder zurück zum Haus komme, ist die doppelte Menge an Leuten eingetroffen. Überall stehen sie in Grüppchen herum und reden. Lilith sitzt nicht mehr an ihrem Platz. Und dann höre ihr lautes, hohes Lachen, das nur eins bedeuten kann: Sie hat sich schon einen Kerl ausgeguckt und lullt ihn, wie Ka die Schlange, mit ihrem Charme ein. Komm zu mir … komm zu mir, summe ich vor mich hin und folge den fröhlichen Tonleitern meiner Freundin.
Sie ist umringt von vier Männern, zwei stehen mit dem Rücken zu mir, die anderen beiden sehe ich im Halbprofil. Einer davon ist Yven. Mir bleibt fast das Herz stehen. Ich habe ein Dejá vu, als ich auf die Gruppe zugehe und der junge Mann mit den schwarzen Haaren sich wie in Zeitlupe zu mir umdreht. Doch der Zauber ist schnell vorbei. Seine Augen sind braun, sein Gesicht hat nicht im entferntesten Ähnlichkeit mit Mo.
»Hallo, wen haben wir denn da?« Yven kommt mit einem strahlenden Lächeln auf mich zu. Er scheint sich wirklich zu freuen, mich zu sehen. Nach einer festen, freundschaftlichen Umarmung und einem Küsschen legt er den Arm um meine Schulter und geleitet mich die letzten drei Schritte zu der kleinen Gruppe. »Darf ich vorstellen, das ist Leia … Sam, Jason und Jean.«
Jean heißt also der junge Mann mit den schwarzen Haaren. Ich prüfe jedes Augenpaar genau in der Hoffnung, auf die blauen Halbedelsteine zu treffen. Keiner der Jungs sieht so umwerfend aus, als dass einer davon Yvens Bruder sein könnte oder George hat definitiv einen anderen Geschmack, als ich.
Ich stelle mich dazu und Lilith nimmt ihren Monolog wieder auf. Sie erzählt irgendeinen
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