Lockruf der Toten / Magischer Thriller
rächen willst, der dich umgebracht hat. Aber mir zu sagen, wer es war, wird nicht helfen.«
»Rächen?« Sie fing meinen Blick auf. »Ich will keine Rache. Ich will einfach nur Antworten.«
»Antworten?«
»Ich weiß nicht, wer mich umgebracht hat. Ich erinnere mich nicht daran.«
»Das ist normal …«
»Normal?« Ein bitteres Auflachen. »Ich glaube nicht, dass das Wort ›normal‹ auf meinen Fall passt. Jeder weiß, wie ich gestorben bin. Jeder hat eine Meinung darüber, wer es getan hat. Jeder glaubt die Wahrheit zu kennen. Jeder außer mir.«
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.
»
Ich
weiß nur, wer angeklagt wurde. Der Mann, den ich geheiratet hatte, der Vater meiner Kinder. Ein Strafgerichtshof entscheidet: unschuldig. Ein Zivilgericht: schuldig. Und ich weiß es nicht. Ich weiß es
immer
noch nicht.« Ihre Stimme schwoll an; dann hatte sie sich wieder gefasst. Sie rieb sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Wie soll ich eine Ewigkeit verbringen, ohne das zu wissen?«
Wenn ich jetzt den Mund öffnete, würde ich mich erbrechen. Es war mir bei früheren Gelegenheiten bereits passiert. Erst im vergangenen Frühjahr hätte ich um ein Haar mein Abendessen auf den abgenutzten Schuhen eines sehr korrekten alten Mannes abgeladen, der geweint hatte, als er mich bat, Kontakt zu seiner toten Enkelin aufzunehmen und herauszufinden, wer sie vergewaltigt und ermordet hatte.
Das ist der Preis, den ich zahle. Auf hundert Leute, die ich mit falschen Zusicherungen tröste, kommt einer, dem ich das Herz breche, wenn ich nein sage. Früher habe ich immer gedacht, dieses Zahlenverhältnis spräche für mich – dass ich mehr half als Schaden anrichtete. Aber in letzter Zeit war ich mir nicht mehr so sicher.
»Ich – ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll«, brachte ich schließlich heraus. »Ich kann den Mord an dir nicht aufklären.«
»Ich weiß, aber gibt es nicht vielleicht jemanden, den du fragen kannst? Einen … irgendeine höhere Macht, die mir die Wahrheit sagen kann?«
»Wenn es eine gibt, dann habe ich keine Möglichkeit, diesen Kontakt herzustellen. Was das Jenseits betrifft, kann ich nur mit Geistern wie dir sprechen.«
Sie streckte die Hand aus, um nach meinem Arm zu greifen; ich sah die Frustration und Verzweiflung in ihren Augen, als ihre Finger durch mich hindurchglitten. Ihr Blick hielt meinen fest. »Dann sag mir einfach nur, was du glaubst. Hat er mich umgebracht?«
So groß die Versuchung war, Gabrielle zu sagen, was sie hören wollte – ich hatte nicht das Recht dazu.
»Was, wenn ich jetzt nein sage, und du wartest auf ihn, nur um herauszufinden, dass ich mich geirrt habe? Was, wenn ich ja sage, und du stellst später fest, dass ich mich
damit
geirrt habe?«
»Du hast recht. Es tut mir leid. Ich hätte nicht fragen sollen. Willst du … willst du, dass ich jetzt gehe?«
Ich schüttelte den Kopf. »Geh mit, wenn es dir nichts ausmacht. Ich kann Gesellschaft brauchen.«
Als wir uns dem Haus näherten, begannen meine Eingeweide wieder zu rumoren. Was sollte ich zum Abschied sagen? Wenn ich nichts sagte, würde das bei den anderen Geistern vielleicht den Eindruck erwecken, dass ich Gabrielle nicht hatte helfen können, aber durchaus willens sein könnte, mir andere Geschichten anzuhören. Ich würde den Rest dieses Drehs in Gesellschaft wartender Geister verbringen, die auf eine Chance lauerten, sich bei mir zu melden – nur um enttäuscht zu werden.
Aber was hatte ich sonst für Möglichkeiten? Gabrielle sagen, sie solle sie alle mitbringen wie Dienstboten, denen eine Audienz bei der Königin gewährt worden ist? Ich konnte ihnen nichts geben. Ich konnte keinen Mörder finden. Ich konnte dem immer noch trauernden Ehemann nicht helfen, eine neue Liebe zu finden. Ich konnte einem undankbaren Kind sein Erbe nicht wieder wegnehmen. Ich konnte den skrupellosen Geschäftspartner nicht daran hindern, die gemeinsam aufgebaute Firma zu ruinieren. In den meisten Fällen konnte ich nicht einmal eine einfache Botschaft weitergeben – im besten Fall wurde mir nur die Tür vor der Nase zugeschlagen; im schlimmsten drohte mir eine Anzeige dafür, dass ich versuchte, die Hinterbliebenen zu beschwindeln.
Was sollte ich also sagen? »Bitte richte all den anderen aus, sie sollen mich nicht behelligen«? Wie kaltschnäuzig wäre das?
Ich rede mir ein, dass ich durchaus helfe – nicht Geistern, aber den Trauernden, mit meiner Show. Aber kommt es darauf an, wie viele Leute ich
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