Lockruf der Vergangenheit
nicht die Wahrheit gesagt. Vertraue ihrem Urteil. Zwanzig Jahre sind vergangen – «
»Wie sind sie ums Leben gekommen?« wiederholte ich leise, aber unnachgiebig. Ich war ruhig und gefaßt. Theo war es, der nervös zu werden begann.
Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte es dir nicht sagen.«
»Dann frage ich eben Colin.«
»Lieber Gott, nein, Leyla – « Er beugte sich vor. »Ich habe ein Recht, es zu wissen.«
»Du wirst es mir immer nachtragen, daß ich es dir gesagt habe, Leyla. Du wirst es mir dein Leben lang nicht verzeihen.«
»Wieso?«
»Weil es dich unglücklich machen wird. Kannst du nicht einfach wieder von hier fortgehen – nein, das geht jetzt wohl nicht mehr. Du bist hierher gekommen, weil du deine Familie und deine Vergangenheit kennenlernen willst. Gut, ich erzähle dir alles. Komm mit.« Wir gingen durch den von Gaslampen erleuchteten Flur in die Bibliothek, wo wir uns am Abend zuvor das erstemal begegnet waren. Das helle Feuer im Kamin und die brennenden Kerzen in den silbernen Leuchtern machten den Raum warm und behaglich. Nachdem ich eingetreten war und mich nahe dem Kamin gesetzt hatte, schloß Theo die Tür und nahm mir gegenüber Platz. Das Licht des Feuers spiegelte sich in seinen dunklen Augen. Lange blickte er in die Flammen, ohne ein Wort zu sagen. Und als er zu sprechen anfing, sah er mich immer noch nicht an.
»Es ist für uns alle hier außerordentlich schmerzhaft, von der Vergangenheit zu sprechen, Leyla. Darum versuchen wir, das Thema zu meiden. Du hast Vater und Bruder verloren; Colin hat seine Eltern verloren. Todesfälle in einer Familie sind, so schmerzlich sie sein mögen, etwas Natürliches. Doch diese Todesfälle waren tragisch durch die Art und Weise, wie sie sich ereigneten, und weil die Opfer noch so jung waren. Der Unfall, dem Colins Eltern zum Opfer fielen, bleibt bis heute unerklärlich. Es war schönes Wetter, das Pferd war frisch und ausgeruht, der Wagen war neu. Niemand weiß, wie es zu dem Unglück kam. Sowohl Onkel Richard als auch Tante Jane waren auf der Stelle tot. Wie ich schon sagte, ich selbst war damals nicht hier, aber ich weiß, daß Colin sich von diesem Tag an völlig veränderte. Und er hat sich nie von diesem Schlag erholt.« Nachdem Theo einmal begonnen hatte, schien ihm das Sprechen leichter zu fallen. Er setzte sich bequemer in seinen Sessel, wirkte fast entspannt.
»Es hat hier nie eine Cholera-Epidemie gegeben, Leyla«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort. »Dein Vater war lange Zeit sehr krank. Er litt an einem unbekannten Fieber, das die Ärzte nicht behandeln konnten. Es kam in Schüben, dann verging es wieder, doch die Abstände zwischen den Schüben wurden immer kürzer, die Schübe selbst immer heftiger. Wir versuchten alles. Aufenthalte an der See, Opium und andere starke Mittel, aber nichts half. Onkel Robert war nicht zu retten. Und eines Tages dann – « Er brach ab und räusperte sich. Ich wartete wortlos, bis er fortfahren konnte. »Eines Tages sagte er, er fühle sich sehr wohl und wolle mit Thomas einen Spaziergang machen. Die beiden blieben lange fort. Als die Sonne unterging, begannen wir, uns Sorgen zu machen. Mein Vater und ich machten uns auf die Suche nach ihnen. Wir waren vor allem wegen Onkel Roberts Gesundheitszustand beunruhigt. Wir – fanden sie – im Wäldchen.«
Im Kamin zerbrach knisternd ein Holzscheit. Nichts von dem, was Theo erzählte, schlug eine Saite der Erinnerung an. Ich wußte nichts von meinem Vater und seiner Krankheit, nichts von Thomas, nichts von den Ereignissen im Wäldchen.
Theos Stimme kam wie aus weiter Ferne, als er wieder zu sprechen begann. »Irgendwie hatte sich Onkel Robert ein Messer beschafft. Er hatte offenbar einen seiner Schübe bekommen, während er mit Thomas unterwegs war. Sie waren beide tot. Er hatte deinen Bruder getötet und dann sich selbst.« Es war still. Ich starrte in die Flammen und spürte, wie mein Gesicht brannte. Ich suchte in den Flammen nach zwei Menschen, einem Mann, den ich als meinen Vater erkennen, und einem Knaben, den ich als Bruder erkennen würde. Aber sie zeigten sich nicht. Sie kamen nicht zu mir. »Du bist mit deiner Mutter unter so tragischen Umständen von hier fortgegangen, Leyla, daß wir gestern, als du plötzlich wieder vor uns standest, nicht wußten, was wir sagen sollten. Wir wußten nicht, wie wir uns verhalten sollten; denn wir wußten auch nicht, wie weit du dich an vergangene Ereignisse erinnertest und was deine Mutter dir erzählt
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