Lockruf der Vergangenheit
Zimmer warf ich Hut und Umhang auf das Bett und setzte mich vor den Spiegel über meinem Toilettentisch. Keine Blässe, keine farblosen Lippen und glanzlosen Augen wie in den Tagen zuvor; statt dessen rosige Wangen und Lippen und strahlende Augen. Es war, als wäre mein Körper plötzlich zum Leben erwacht.
Das Wiedersehen mit dem Wäldchen, sagte ich mir. Oder das Wetter, der Wind und die Kälte. Der lange Anstieg zum Haus hinauf. Vielleicht auch die Erinnerung an den Rubinring. In meinem Bestreben zu leugnen, daß mein Vetter Colin eine solche Wirkung auf mich haben konnte, dachte ich mir alle möglichen Dinge aus, um mir meine plötzliche Lebendigkeit zu erklären.
Während ich mein Haar bürstete, hörte ich im Flur Stimmen und Schritte. Ich hörte Gertrude und Anna miteinander sprechen, dann Theo, alle offensichtlich bemüht um Henry, der wieder an seinen Kopfschmerzen litt. Aber ich kümmerte mich nicht um das, was vor meiner Tür passierte. Ich hatte anderes im Sinn.
Immer noch beschäftigte mich Tante Sylvias Brief. Und nun kamen noch Colins rätselhafte Worte im Wäldchen hinzu. Woher wußte er, wo mein Versteck gewesen war? Wenn ich allein dort unten gewesen war, und sie mich erst später gefunden hatten, wie ich in völliger Verwirrung vor den beiden Toten gestanden hatte, dann konnte doch keiner außer mir wissen, wo ich mich versteckt gehalten hatte. Es klopfte laut. »Leyla?« rief Theo von draußen. »Ja, was möchtest du?«
Er steckte den Kopf zur Tür herein, das Gesicht ungläubig und verärgert. »Leyla, du weißt doch, daß Großmutter wartet.«
»Ja. Aber ich bürste mir gerade das Haar, wie du siehst. Es wird Großmutter schon nichts ausmachen, noch ein bißchen länger zu warten.« Theo vergaß alle guten Manieren und kam einfach in mein Zimmer. »Also, wirklich, Leyla! Du hast noch einiges zu lernen. Wir wissen, daß du anders erzogen worden bist als wir, aber du mußt dich anpassen. Wenn du zur Familie gehören willst, mußt du dich auch an unsere Regeln halten. Und Regel Nummer eins schreibt vor, Großmutter niemals warten zu lassen.«
»Entschuldige«, sagte ich kühl. Als ich aufstand, fiel meine Haarbürste zu Boden. »Und erlauben eure Regeln auch, einfach das Zimmer einer jungen Dame zu betreten, die allein ist? Ach, Theo, ich habe einen anstrengenden Nachmittag hinter mir. Ich möchte mich ein wenig ausruhen, eine Tasse Tee trinken und mich frischmachen, ehe ich zu Großmutter hinaufgehe.«
Er öffnete den Mund, um mir etwas zu erwidern, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Außerdem hat Großmutter zwanzig Jahre in aller Seelenruhe auf mich gewartet, Theo. Da kann sie ruhig noch ein wenig länger warten.«
»Lieber Gott, was ist denn nur in dich gefahren?«
»Nichts.« Ich bückte mich und hob die Bürste auf. »Und wo bist du überhaupt gewesen? Was hast du heute getan?« Ich setzte mich wieder an den Toilettentisch und bürstete heftig und gereizt durch mein Haar. »Ich war im Wäldchen.«
»Was?« rief er heiser. Im Spiegel sah ich, wie er weiß wurde. »Leyla, ich – « Er griff sich mit der Hand an die Stirn. Ich wandte mich ihm wieder zu. »Was ist denn?«
Er sah sich nach einem Sessel um, setzte sich und schüttelte immer nur den Kopf. So außer Kontrolle hatte ich ihn noch nie erlebt. Als er mich endlich ansah, erschrak ich. Große Furcht und Unruhe spiegelten sich in seinen Augen. Einen Moment lang glaubte ich, es ginge ihm um mich und mein Wohlergehen, aber bei näherer Überlegung kam ich zu dem Schluß, daß Theo aus anderen Gründen beunruhigt war.
»Du hättest nicht hingehen sollen«, sagte er leise. »Warum denn nicht? Sag mir doch, was los ist, Theo!«
»Und – wie war es, Leyla? Hast du – hast du dich an etwas erinnert?« Ich sah auf den Rubinring an seinem Finger, den Ring, den ich im Sonnenlicht hatte aufblitzen sehen und der in irgendeiner Verbindung mit dem Wäldchen und der Vergangenheit stand. Aber auch zu Theo sagte ich: »Nein, ich erinnere mich an nichts.«
Er lehnte sich scheinbar erleichtert zurück, aber seine Stimme blieb angespannt. »Es hätte – furchtbar werden können für dich. Diese Erinnerung, meine ich. Sei froh, daß sie dir erspart geblieben ist. Mein Gott, es war grauenvoll.«
Lange sah ich Theo eindringlich an, beobachtete seine fahrigen Bewegungen, bemerkte die Furcht und die Unruhe in seinem Gesicht. Ich sah meinen Eindruck, daß Theo weniger um mein Wohl als um etwas anderes besorgt war, bestätigt und hatte das
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