Lockruf der Vergangenheit
mit Feindseligkeit geladen. Die Schatten wurden dunkler, das Heulen des Windes hinter den Fenstern schien lauter zu werden.
»Woran kannst du dich schon erinnert haben? Gewiß nichts von Belang.«
»Das weiß ich nicht, Großmutter. Es wird sich zeigen. Es war nur ein flüchtiges Bild, aber es zeigte sich im Wäldchen, und ich glaube fest, daß das nur der Anfang war.«
Während ich sprach, wandte ich meinen Blick unwillkürlich zu ihren Händen. Hart und knochig waren sie, von Altersflecken übersät. Ich stellte mir vor, wie sie vor zwanzig Jahren gewesen sein mußten – kräftig, sehnig, wahrscheinlich mit Ringen geschmückt.
»Möchtest du mir nicht sagen, was das für eine Erinnerung war, Leyla?«
Ich hob den Blick. Das war ein neuer Ton, und er überraschte mich. Anstatt zu befehlen, hatte sie gebeten. Es machte mich mißtrauisch. »Ich kann dein Widerstreben verstehen, mein Kind, und ich wünschte, ich könnte dir den Aufenthalt hier angenehmer machen. Wir sollten uns nicht feindlich gegenüberstehen, wir sind schließlich von einem Fleisch und Blut. Ich bin die Mutter deines Vaters. Wir sollten Freundinnen sein.«
»Das habe ich gestern abend versucht.«
»Du bist ein sehr eigensinniges Kind, Leyla, und das ist nur zum Teil mit deiner Jugend zu entschuldigen. Du denkst einzig an dich und versuchst gar nicht, den Standpunkt anderer zu sehen. Du bist voller Erwartungen und naiver Hoffnungen hierher gekommen und warst tief enttäuscht, als sie nicht erfüllt wurden. Du glaubtest, du würdest hier eine Familie finden, die dich mit offenen Armen aufnehmen würde, statt dessen kamst du in ein Haus voller fremder Menschen, die dein plötzliches Erscheinen aus der Fassung brachte. Und dir war nur eingefallen, dich schmollend zurückzuziehen und alle möglichen Phantastereien über uns zu verbreiten. Du hast uns mit deinen Anschuldigungen tief getroffen und verletzt, Leyla.«
Ich blieb einen Moment reglos am Feuer stehen und ließ ihre Worte auf mich wirken. Ich konnte nicht leugnen, daß sie ein bitteres Körnchen Wahrheit enthielten. Plötzlich lief ich zu ihr und fiel neben ihrem Sessel auf die Knie.
»Und wie habt ihr euch mir gegenüber verhalten? Habt ihr euch denn die Mühe gemacht, meine Seite zu sehen? Könnt ihr euch überhaupt vorstellen, wie es ist, wenn man heimkehrt, sich nach nichts als Liebe sehnt und statt dessen mit Mißtrauen und Abwehr behandelt wird? Ich habe diese Anschuldigungen vorgebracht, weil ihr die gleichen gegen meinen Vater gerichtet habt. Ja, ich kam voller Hoffnung, weil ich glaubte, ein liebevolles Willkommen erwarten zu dürfen. Jahrelang habe ich mit meiner Mutter in Armut gelebt. Jahrelang sehnte ich mich nach einer Familie. Ich bin hier geboren, Großmutter. Ich gehöre hierher. Ich bin nicht aus eigenem Antrieb vor zwanzig Jahren von hier fortgegangen. Ich wurde fortgebracht; von allein wäre ich niemals gegangen. Und es war nicht meine Schuld, daß ich fort blieb. Ich hatte keine Wahl. Und bei der ersten Gelegenheit – nach dem Tod meiner Mutter – kam ich zurück nach Pemberton Hurst zu meiner Familie. Sag mir bitte, inwiefern ich euch Unrecht getan habe!«
Ich war überrascht, als ich die Tränen in den Augen meiner Großmutter sah. Sie sah mich nicht an, sondern starrte unverwandt geradeaus. Meine Worte hatten sie offenbar tief bewegt.
»Es war ein Werk des Teufels, daß du von uns fort mußtest, Leyla«, sagte sie. »Dein Vater – mein Lieblingssohn – war von Dämonen besessen und hatte Grauenvolles getan. Unsere Familie ist verdammt. Keinem Pemberton wird erspart bleiben, was er durchlitten hat.«
»Aber das stimmt doch nicht, Großmutter. Mein Vater war unschuldig. Der Teufel hatte nichts damit zu tun. Den Fluch der Pembertons gibt es nicht und auch nicht den Wahnsinn, dem wir angeblich alle verfallen werden. Ich weiß nicht, warum ihr alle das glaubt; ich fühle, daß es Lüge ist. Und ich möchte es beweisen. Wenn ich mich erinnern könnte, was ich damals sah – «
»Nein, Leyla!« Die Kraft ihrer Stimme erstaunte mich. »Laß es ruhen. Du hättest niemals zurückkehren sollen. Es ist nicht gut. Laß die Toten ruhen, kehre nach London zurück.« Plötzlich faßte sie mich mit einer ihrer knochigen Hände und hielt mich sehr fest. »Leyla, mein Kind. Verlasse dieses Haus. Sofort. Du bringst dich in die höchste Gefahr. Geh fort von hier und komme niemals zurück. Ich flehe dich an.« Mir liefen die Tränen über die Wangen, während ich sah, wie sie
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