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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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nicht gemeldet, als ich gerufen habe?«
    »Ich wollte dich nicht stören.«
    »Aber du hast mich gestört…« Ich drückte eine Hand auf meine Brust, als könnte ich so mein rasendes Herz beruhigen. »Ich finde das abscheulich von dir. Du hast mich beobachtet. Warum?«
    »Weil ich meinte, es wäre besser, wenn du ungestört bleibst. Nachdem du meinem Vorschlag, dich hierher zu begleiten, zugestimmt hattest, kamen mir Bedenken. Ich sagte mir, es sei vielleicht doch am besten, wenn du allein hierher kämst. In meiner Gegenwart hättest du dich vielleicht nicht richtig entspannen können. Oder vielleicht wäre durch meine Anwesenheit die Stimmung gestört worden, die du brauchtest, um dich zu erinnern. Ich fand, es wäre besser für dich, dich hier allein zu glauben; aber ich wollte dich dennoch nicht allein lassen.«
    »Also bist du mir gefolgt. Sehr freundlich von dir, Colin, aber du hast mich zu Tode erschreckt.«
    »Na, hör mal, was ist schon so ein bißchen Gehölz im Vergleich zu Londons Straßen bei Nacht? Du bist doch bestimmt schon schlimmeren unheimlichen Gestalten begegnet.«
    Wider Willen mußte ich lächeln, und im Grund war ich froh, daß jemand bei mir war. Eine merkwürdig düstere Stimmung ging von diesem Wäldchen aus, die sich unmittelbar auf mich übertrug. Sie kam allerdings nicht von Erinnerungen aus der Vergangenheit, sondern von den Dingen, die mir die anderen über diesen Ort erzählt hatten. »Hast du dich an irgend etwas erinnert?« fragte Colin. Ich ließ den Blick wieder über die verfallenen Mauern und die kahlen Bäume schweifen. »Nein, an gar nichts.« Die Erinnerung an den Rubinring wollte ich lieber für mich behalten. »Irgend etwas hat heute nicht gestimmt. Vielleicht war es das Wetter. War es damals warm?«
    »Ja, es war wärmer als heute und nicht so stürmisch.«
    »Dann lag es vielleicht wirklich am Wetter. Ich muß eben an einem schöneren Tag wieder herkommen. Es muß wahrscheinlich alles genau übereinstimmen. Ich werde so oft wieder hierher kommen, bis ich mich erinnern kann.«
    »Ist es dir so wichtig?«
    Ich sah ihn an. In seinen Augen war Besorgnis. Aber ich konnte nicht erkennen, um wen. »Ja, es ist mir sehr wichtig.«
    »Und wenn es nun sehr lange dauert?«
    »Dann mußt du mir eine Guinee bezahlen.«
    »Ich muß dir –?« Plötzlich warf er den Kopf weit zurück und lachte. Es war ein gutes Lachen, voll und herzlich. Wie schön wäre es gewesen, gemeinsam mit Colin aufgewachsen zu sein. Er wäre mir ein großer Bruder gewesen, der mich beschützt und für Abenteuer und Heiterkeit gesorgt hätte. Ich hätte ihn in diesen Jahren so gut kennenlernen können, wie ich mir vorstellte, daß Martha ihn kannte, anstatt über sein unberechenbares Verhalten rätseln zu müssen, wie ich das jetzt tat. Ich stellte ihn mir neben Edward am großen Tisch im Speisezimmer vor – der unglaublich wohlerzogene, immer zuverlässige Edward neben meinem Vetter, der sich genau umgekehrt verhielt – und hätte beinahe laut herausgelacht.
    Colin, der meine Heiterkeit bemerkte, sagte: »Du bist also gar nicht so bitter ernst, wie es manchmal den Anschein hat. Komm, Leyla, laß uns diesen unwirtlichen Ort verlassen.«
    Wir machten kehrt und gingen ein paar Schritte bis zum Rand des Wäldchens. »Komm nicht zu bald wieder hierher«, sagte Colin. »Laß dir Zeit. Gönn dir ein bißchen Ruhe. Ich glaube, du forderst es zu stark heraus. Außerdem solltest du das nächstemal aus einer anderen Richtung kommen.«
    Ich blieb stehen. »Warum sagst du das?«
    Colins Gesicht war eine undurchdringliche Maske, als er erwiderte: »Nun, wenn du wirklich die Stimmung jenes Tages wiederherstellen willst, um dich erinnern zu können, was du gesehen hast, dann solltest du wenigstens an der richtigen Stelle stehen.«
    Ich warf einen Blick über meine Schulter. »An der richtigen Stelle?«
    »Ja. Dort, wo du heute standest, warst du damals nicht. Als du versteckt zwischen den Bäumen hocktest und deinen Vater und deinen Bruder beobachtet hast, warst du an einer ganz anderen Stelle.«

 
    9
     
     
     
    Als wir ins Haus zurückkamen, hörten wir, daß Henry sich, von heftigem Unwohlsein geplagt, in sein Zimmer zurückgezogen hatte, und daß meine Großmutter nach mir verlangt hatte. Weder das eine noch das andere berührte mich sonderlich. Mich beschäftigte, während ich die Treppe zu meinem Zimmer hinauflief, nur eine Frage: Woher wußte Colin, wo ich an jenem Tag vor zwanzig Jahren versteckt gewesen war? Im

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