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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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mich mit bebenden Lippen bat, fortzugehen. Ich stellte mir ihren Schmerz vor, als sie erfahren hatte, daß ihr Sohn und Enkel auf so grauenhafte Weise den Tod gefunden hatten. Welch schreckliche Erinnerungen mußte der Anblick des Wäldchens täglich in ihr wecken! Und ich hatte durch mein Erscheinen alles wieder lebendig gemacht.
    »Bitte, verzeih’ mir«, sagte ich leise. »Aber ich habe keine Wahl. Ich schulde es meinem Vater – «
    »Dein Vater ist tot.«
    »Dann schulde ich es seinem Andenken und meiner Mutter, die zwanzig Jahre für das gelitten hat, was er, wie sie glaubte, getan hatte. Jetzt muß ich beweisen, daß das nicht stimmt. Nur dann kann ich mein eigenes Leben aufnehmen. Ich kann jetzt nicht dieses Haus verlassen und Edward heiraten. Ich müßte dauernd daran denken, daß ich meinen Vater und meine Mutter im Stich gelassen habe. Ich hoffte, du würdest das verstehen, Großmutter. Das Andenken deines Sohnes soll wieder rein werden.«
    »Es ist zu schmerzhaft«, stöhnte sie. »Ich kann es nicht ertragen.« Ich zog mein Taschentuch heraus und wischte mir die Tränen ab. Dann stand ich auf. »In gewisser Weise ist es wohl alles meine Schuld«, sagte ich. »Wäre ich niemals zurückgekommen, so wärt ihr hier ungestört geblieben. Verzeih mir, Großmutter. Aber ich bin gekommen, und ich werde den Weg, den ich eingeschlagen habe, bis zum Ende gehen.« Ich war selbst erstaunt, wie gefaßt ich war, als ich zur Tür ging. Dort blieb ich noch einmal stehen.
    »Und wie wird dieses Ende aussehen?« fragte meine Großmutter hinter mir.
    Eine schwarze Wand stand direkt vor meinem Gesicht. Ich wußte, daß es die Tür war, die in den Flur hinausführte. Gleichzeitig jedoch schien es mir meine Zukunft zu sein, die da vor mir stand, so dunkel und abschreckend wie meine unbekannte Vergangenheit. »Das Ende wird die Vereinigung der Vergangenheit mit der Gegenwart sein, Großmutter.«
    »Wozu? Wir wissen alle, was die Zukunft bereithält.« Ich drehte mich noch einmal nach ihr um, sah sie an, wie sie da im schützenden Dunkel saß wie eine Eremitin, die in einer vergangenen Zeit verharrt und sich weigert, einen Schritt in die Zukunft zu tun. Hatte sie seit jenem schrecklichen Tag vor zwanzig Jahren so gelebt? Oder war sie erst mit dem Tod von Colins Vater zur Einsiedlerin geworden? Oder aber hatte der Selbstmord ihres Mannes vor zehn Jahren sie dazu gemacht?
    »Ich glaube nicht an diese Zukunft. Es gibt keinen Fluch. Die Pembertons sind nicht verdammt.«
    »Nein?« kam die Stimme dünn aus der schattendämmrigen Vergangenheit. »Dann sag dir das nur ganz fest, wenn du deinen Onkel Henry besuchst. Denn es geschieht schon wieder.«
     
     
    Das es, vermutete ich, bezog sich auf das Syndrom, das mit dem Wahnsinn einherging: Kopfschmerzen, Fieber, Delirium und schließlich der Tod. So war angeblich Sir Johns Bruder Michael vor fünfundvierzig Jahren gestorben. So war, wie man mir berichtet hatte, mein Vater gestorben. Und das gleiche Schicksal hatte später meinen Großvater ereilt. Henry, so schien es, sollte das nächste Opfer werden. Aufregung empfing mich, als ich in den unteren Flur hinunterkam. Gertrude rannte, gefolgt von zwei Mädchen, an mir vorbei; die eine trug ein Kissen, die andere ein Teetablett. Anna stand völlig außer sich vor dem Schlafzimmer, das sie mit Henry teilte, und rief immer wieder: »O Gott, o Gott, hilf uns doch!«
    Als ich zu ihr eilte und meine Hand auf ihren Arm legte, starrte sie mich an, als kenne sie mich nicht. »Ach, Jenny, ich bin so durcheinander. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
    »Wegen Onkel Henry?«
    Sie nickte mehrmals. »Wir haben nach Dr. Young geschickt. Er wäre gleich gekommen, aber in der Spinnerei hat es einen Unfall gegeben. Der Junge sagte, er würde heute im Lauf des Abends kommen. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich tun soll. Hoffentlich kommt er bald.« Ich wollte ins Zimmer gehen, aber sie hielt mich zurück. »Es ist schlimmer, Jenny, schlimmer als je zuvor. Es ist genau wie bei Robert. Du weißt doch noch, erst hatte er nur ab und zu Kopfschmerzen, dann kamen sie immer häufiger und wurden so grauenvoll, daß sie nicht mehr zu ertragen waren.«
    Aus dem Zimmer kam ein Schrei Henrys, dessen Stimme von Qual verzerrt war.
    »Er hat noch kein Fieber«, fuhr Anna hastig fort. »Aber es wird noch kommen, Jenny, du wirst sehen. Seine Zeit ist da. O Gott, mein armer, armer Henry.« Anna schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Sie war völlig

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