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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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Gefühl, er fürchtete das, woran ich mich vielleicht erinnern würde.
    »Es wird gewiß nicht so furchtbar werden, wie du glaubst«, entgegnete ich ruhig. »Ich habe in London schreckliche Dinge gesehen – der Tod ist mir nicht fremd, ebensowenig der Anblick von Blut. Ich habe einmal mitangesehen, wie bei einem Unfall ein Mann die Beine verlor – «
    »Das ist nicht das gleiche, Leyla.« In flehentlicher Gestik breitete er die Hände aus. »Natürlich ist es schrecklich, einen Unfall mitanzusehen, aber einen Mord – das ist das reine Entsetzen. Und dann noch beim eigenen Vater und Bruder. Ich begreife einfach nicht, daß du das alles noch einmal erleben willst, Leyla. Ich verstehe es nicht.« Ich stand auf und ging zur Tür. »Doch, ich glaube schon, daß du es verstehst, Theo. Denn du weißt genau, warum ich wissen möchte, was ich an jenem Tage gesehen habe, und ich glaube, dir liegt sehr viel daran, mich davon abzuhalten, daß ich mich erinnere.«
    Er sprang zornig auf. »Jetzt reicht es aber wirklich. Du hast mit deinem Gerede schon Martha aus der Fassung gebracht. Aber ich lasse mir das nicht bieten. Außerdem war dein Besuch im Wäldchen ja ohnehin vergeblich.«
    »Diesmal, ja, aber ich war ja nicht das letztemal dort.« Ich sah zu seinem Ring hinunter. »Vielleicht wird die Barriere mit jedem Besuch ein Stück weiter eingerissen. Oder vielleicht kommt einmal ein Tag, an dem das Wetter genau so ist, wie es damals war, an dem die Stimmung und selbst das Licht im Wäldchen so sind, wie vor zwanzig Jahren. Und dann, Theo, dann werde ich mich an alles erinnern.«
    Damit wandte ich mich ab und ging zur Tür hinaus. Ich hätte mir gern ein anderes Kleid angezogen, ehe ich meiner Großmutter gegenübertrat, aber Theo hatte mich mehr aus der Ruhe gebracht, als ich ihm gezeigt hatte, und ich hatte nur den Wunsch, ihm zu entkommen. Seine Art, niemals zu sagen, was er wirklich dachte, konnte ich nicht lange ertragen. Außerdem ärgerte mich sein dominantes Verhalten. Zornig und traurig zugleich ging ich zu meiner Großmutter hinauf und kam in ziemlich aufgewühltem Seelenzustand vor ihrem Zimmer an, gewiß nicht in der rechten Verfassung für ein Rencontre mit ihr. Aber ich wollte es nicht länger aufschieben. Nachdem ich mir noch einmal über das Haar gestrichen hatte, klopfte ich kurz. »Herein«, sagte sie scharf.
    Alles war so wie am Abend zuvor. Das Zimmer war düster, nur von niedrig brennenden Ölflammen und flackernden Kerzen beleuchtet. Sie thronte wieder in ihrem Lehnstuhl, die schmalen Füße auf einer Fußbank, die Hände auf den Armlehnen des Sessels. Und wieder fiel Schatten auf ihr Gesicht, so daß ihre Züge nicht zu erkennen waren, sie jedoch ihr Gegenüber genau beobachten konnte. Diesmal jedoch würde ich mich nicht einschüchtern lassen; ich kannte sie inzwischen ein wenig besser und hatte eine klare Vorstellung davon, was sie von mir erwartete. Anstatt wie am Abend zuvor direkt vor sie hinzutreten, daß mir der Schein der Öllampe aufs Gesicht gefallen wäre, stellte ich mich an den Kamin, wo sie mich nur als Silhouette wahrnehmen konnte. Augenblicklich drehte sie den Kopf nach rechts, zornig, wie mir schien. »Warum stehst du da drüben? Ich kann dich nicht sehen.«
    »Ich friere, Großmutter.«
    »Komm näher, Kind, meine Augen sind nicht so gut wie deine.«
    »Ich möchte lieber am Feuer bleiben, Großmutter, wenn es dir recht ist. Es ist wirklich schrecklich kalt hier drinnen.«
    Sie zögerte kaum merklich, ehe sie sagte: »Dann hättest du bei diesem Wetter nicht ausgehen sollen. Wir hatten Sonnenschein, aber seit du hier bist, toben diese höllischen Winde. Der Satan ist dir auf den Fersen, Kind. Nimm dich in acht.«
    »Ein Spaziergang an frischer Luft ist gesund, Großmutter.«
    »Auch wenn er ins Wäldchen führt?«
    Sie wußte es also. Sollte mich das überraschen? Angesichts der Tatsache, daß Theo nichts gewußt hatte, ja. Und wer hatte es ihr erzählt? Wer, außer Colin, wußte, daß ich im Wäldchen gewesen war? Obwohl wir natürlich auch von jemandem beobachtet worden sein konnten…
    »Und du erinnerst dich an nichts«, fuhr sie fort, und es klang beinahe schadenfroh.
    War es etwa doch Colin, der ihr Bericht erstattete? »Du irrst dich, Großmutter. Ich habe mich sehr wohl an etwas erinnert.«
    Mit meiner Großmutter geschah eine Veränderung. Es war nichts Sichtbares; sie machte keine Bewegung, sagte nichts, und doch veränderte sich die ganze Stimmung im Raum. Er war plötzlich

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