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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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nur noch ein stöhnendes Bündel von Schmerz und Wahn war, hatte mich aus der Fassung gebracht. Keines klaren Gedankens fähig, lief ich durch den Flur zu meinem Zimmer.
    Von allen Seiten schien Tod mich zu umgeben. Der Geist meines Vaters und meines Bruders waren an meiner Seite; mein Großvater, der sich umgebracht hatte; mein Onkel Richard und meine Tante Jane, die durch einen Unfall ums Leben gekommen waren; mein Großonkel Michael, der selbst Hand an sich gelegt hatte; und meine Mutter, die mich nach länger Krankheit verlassen und ein Stück von mir mitgenommen hatte.
    Auf meiner blinden Flucht durch den Flur prallte ich unversehens mit Colin zusammen und hätte uns beinahe beide zu Boden gerissen. Doch er umfing mich rasch mit seinen Armen und hielt mich fest, bis wir das Gleichgewicht wiedergefunden hatten. Dann erst ließ er mich los. »Wohin denn so eilig, Leyla? Wovor läufst du denn weg?« fragte er ruhig.
    Ich blickte über meine Schulter zurück, sah wieder das schmerzverzerrte Gesicht Henrys, die blassen Lippen, die weit aufgerissenen Augen. »Ich war bei Onkel Henry. Mein Gott, ihm ist so elend, Colin. Warum können wir denn nichts für ihn tun? Mit Laudanum – «
    »Er bekommt schon die höchste Dosis, Leyla. Dr. Young wagt nicht, ihm mehr zu geben, sonst – « Colin breitete die Hände aus. Ja, ich kannte Laudanum, eine Mischung aus Morphium und Alkohol. Es linderte Schmerzen auf wunderbare Weise, aber es barg auch große Gefahren.
    »Wir können nichts mehr tun.«
    »Aber er leidet doch so.« Colin schwieg, doch sein Gesicht sagte alles.
    »Ich glaube es nicht«, erklärte ich heftig und erbittert. »Es kann nicht wahr sein. Diese geheimnisvolle Krankheit der Pembertons gibt es nicht.«
    »Und du glaubst nicht daran, daß wir ihr alle hilflos ausgeliefert sind?«
    »Nein! Es ist ein unglückliches Zusammentreffen, oder vielleicht eine ortsgebundene Krankheit, aber es gibt eine sicherlich normale Erklärung dafür, und ich verstehe nicht, daß du das nicht siehst. Colin, wie kannst du nur so blind sein!«
    Ich schrie ihn an und machte damit meinem ganzen Schrecken über Henrys Leiden und Annas Verzweiflung Luft. Und zugleich entlud sich die Spannung, die sich im Lauf dieses Tages in mir angestaut hatte – mit dem Fund des Tagebuchs in Tante Sylvias Zimmer, mit dem Besuch im Wäldchen, dem Gespräch mit meiner Großmutter, dem Anblick von Henrys Qual.
    Ich zwang mich nach meinen heftigen Worten zur Ruhe, umgab mich mit einer Fassade künstlicher Gelassenheit, während ich innerlich weiter raste. Colins grüne Augen sahen mich hart an und verbargen, was er wirklich dachte. Schweigend stand er vor mir, als warte er auf etwas. »Ich war vorhin bei Großmutter«, sagte ich so ruhig ich konnte. »Ja, und sie wußte, daß ich heute nachmittag im Wäldchen war.«
    »Du hast aus deiner Absicht kein Geheimnis gemacht, Leyla.«
    »Sie wußte auch, daß es vergeblich war; daß ich mich an nichts erinnert habe. In der kurzen Zeit zwischen meiner Rückkehr aus dem Wäldchen und meinem Besuch bei ihr hatte sie alles erfahren.«
    »Tatsächlich?« Sein Gesicht verriet nichts.
    »Ach, Colin, es sollte mich wahrscheinlich nicht wundern, und ich habe wahrscheinlich auch kein Recht, darüber zornig zu sein, aber mußt du denn zu Großmutter laufen und ihr alles erzählen? Mußt du für sie der Beobachter sein?«
    Sonderbarerweise ließen ihn meine Worte völlig ungerührt. Sein verschlossenes Gesicht sagte nichts. Mich brachte das nur noch mehr in Zorn und Verwirrung.
    »Was ist denn nur los mit dir? Mit euch allen!« Ich stampfte mit dem Fuß. »Die flüchtigen Bilder, die mir manchmal doch kommen, zeigen mir Gelächter und Fröhlichkeit in diesem Haus.« Mir sprangen die Tränen der Ohnmacht in die Augen. »Was ist mit euch allen geschehen? Warum habt ihr dieses Haus in ein Mausoleum verwandelt?« Mit unerwartetem Mitgefühl nahm Colin meine Hand und sagte: »Komm mit, Leyla. Ich möchte dir etwas erzählen.« Ich ging mit ihm durch den Flur zur Treppe und hinunter in die Bibliothek. Hier unten war es still, und in der wohligen Wärme des lodernden Feuers entspannte ich mich allmählich. Oben, umgeben von Düsternis und Tod, hatte ich mich wie ein in der Falle gefangenes Tier gefühlt. Hier unten wurde ich ruhig.
    Colin blieb vor mir stehen, während ich mich in einen Sessel am Kamin setzte. »Leyla, die Menschen in diesem Haus sind seit Jahrzehnten unglücklich und werden es wohl immer sein, auch im nächsten

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