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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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aufgelöst und drohte unter der Belastung des anscheinend Unvermeidlichen zusammenzubrechen. Nicht in der Lage, ihr mehr zu geben als eine tröstliche Umarmung, entfernte ich mich von ihr und trat leise in das dämmrige Schlafzimmer, wo mein Onkel stöhnend auf seinem Bett lag. Sein Haar war feucht von Schweiß, das Gesicht aschfahl, die Lippen zeigten überhaupt keine Farbe. Ich näherte mich ihm vorsichtig, unsicher, was ich tun oder sagen konnte, um ihm zu helfen, nur am Rande Gertrude bemerkend, die am Fußende des Bettes stand. Die Augen fest zusammengekniffen vor Schmerz, stöhnte Henry immer wieder laut auf. Als ich das bleiche, eingefallene Gesicht sah, die Hände, die sich vor Schmerz in die Bettdecke krampften, überkam mich tiefes Mitgefühl. Mochte er gegen mich sein, oder nicht, er war der Bruder meines Vaters und ein leidender Mensch.
    »Onkel Henry«, flüsterte ich und kniete neben dem Bett nieder. »Onkel Henry.«
    Es dauerte einen Moment, ehe er den Kopf zur Seite drehte, um mich anzusehen. Seine Pupillen waren winzig klein. »O Gott«, hauchte er. »Jenny, ich sterbe.«
    »Aber nein, Onkel Henry.« Ich legte ihm sachte die Hand auf die Stirn und spürte mit Erschrecken, wie kalt seine Haut war. »Das geht vorüber. Du wirst schon wieder gesund.«
    »Nein! Nein!« flüsterte er beinahe heftig. »Erst mein Onkel Michael, dann mein Bruder Robert, dann mein Vater und jetzt ich. Die nächsten werden die Kinder sein, Theo und Colin, Martha und Leyla. Ja, auch die kleine Leyla. Wir sind alle Pembertons. O Gott!« Er drückte wieder die Augen zu, und sein ganzer Körper zuckte in einem heftigen Krampf. »Ich habe das Gefühl, daß mir der Kopf zerspringen will. O Gott, hilf mir doch, hilf mir doch!«
    »Bitte, beruhige dich«, sagte ich tröstend. »Es wird doch wieder besser werden, Onkel Henry. Ganz bestimmt.«
    Aber eigentlich wollte ich mit diesen Worten mehr mich selbst beruhigen, als ihn. Ich fühlte mich in einen Strudel der Aussichtslosigkeit hineingerissen, gegen den ich mich gewappnet geglaubt hatte. Außerdem glaubte ich nicht, daß er irgend etwas von dem, was ich sagte, hörte. Er schwebte in einer Zwischenwelt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wo ihn meine Stimme nicht erreichen konnte. Als er die Augen wieder öffnete, sah ich darin einen irren Glanz und die nackte Angst. »Lieber Gott, bitte, laß mich nicht die Verbrechen begehen, zu denen mein Bruder getrieben wurde. Bitte, erspare mir diese Grausamkeit. Laß mich dieser Familie nicht zu einer weiteren Quelle des Schmerzes und des Kummers werden.«
    Entsetzt sah ich Henry an. Während er seine zitternden Finger um die Bettdecke klammerte und mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit über sich starrte, verband nur noch ein dünner Faden klaren Denkens ihn mit der Wirklichkeit, ein Fünkchen Einsicht, das ihn angstvoll erkennen ließ, was geschehen könnte, wenn das Delirium eintrat. »Nein, Onkel Henry«, rief ich. »Das wird nicht geschehen. Mein Vater hat das nicht getan. Er war das Opfer, nicht der Mörder.«
    »Du weißt es nicht, Jenny. Du warst nicht dabei.«
    »Aber Leyla war dabei. Ich war dabei!« Ich schlug mir mit der Faust an die Stirn. »Ach, wenn ich mich doch nur erinnern könnte! Onkel Henry, wenn ich mich erinnern könnte, was ich damals im Wäldchen sah, könnte ich dich beruhigen: Mein Vater war kein Mörder, und du wirst auch keiner werden. Siehst du das denn nicht? Du hast dir eingeredet, daß – «
    »Mein Gott!« schrie er laut und riß sich mit beiden Händen an den Haaren. »Diese Schmerzen! Es ist, als stocherte mir jemand mit einem heißen Schürhaken im Kopf herum.« Er warf sich so wild hin und her, daß ich Angst bekam.
    Im nächsten Augenblick war Anna an seiner Seite und legte ihm beruhigend den Arm um den Leib. »Beruhige dich, Liebster«, flüsterte sie unter Tränen. »Beruhige dich. Es wird ja wieder gut. Dr. Young ist schon unterwegs.«
    Als mein Onkel etwas ruhiger geworden war, wandte sich Anna mir zu und sagte mit einer Heftigkeit, die mich erschreckte: »Du! Du hast ihn aufgeregt! Verschwinde und komm ja nicht wieder hier herein, solange er krank ist.«
    »Aber ich möchte helfen – «
    »Du hast genug angerichtet. Verschwinde!«
    Ich wich vor meiner aufgebrachten Tante zurück und lief zur Tür hinaus. Ich kam mir vor wie in einer Geisterwelt, nichts als zuckende Schatten und gespenstische Finsternis um mich herum. Der Anblick Henrys, in dem ich eine Vaterfigur gesehen hatte und der jetzt

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