Lockruf der Vergangenheit
Schicksals, und vor allem seine und der anderen Entscheidung, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. Es war einfach furchtbar!
Ich stand schließlich doch auf, zog die Vorhänge zurück und blickte in einen grauen, unfreundlichen Tag hinaus. In der Auffahrt standen große dunkle Pfützen, die kahlen Zweige der Eschen und Akazien glitzerten, als wären sie mit Girlanden winziger Diamanten geschmückt. Ein Mädchen kam herauf, um mir beim Ankleiden zu helfen. Sie bürstete mein Samtkleid aus, schnürte mir das Korsett und ordnete die Unterröcke über der Krinoline. Sie half schweigend, ohne mich anzusehen, und ich fragte mich, was die Hausangestellten wohl über diese exzentrische Familie dachten.
Als ich ins Frühstückszimmer hinunterkam, stellte ich mit Überraschung fest, daß ich ganz allein war. Gertrude berichtete mir, daß Anna und Theo bei Henry wachten, dem es zusehends schlechter ging, während Martha es vorgezogen hatte, auf ihrem Zimmer zu bleiben und zu sticken. Colin war schon in aller Frühe ausgeritten.
Nachdem ich meinen Tee getrunken hatte, dem ich gegen die Kopfschmerzen ein wenig Brandy beigegeben hatte, beschloß ich, einen Rundgang durch das Haus zu machen. In London hatte ich immer einen Spaziergang im Hyde Park gemacht, wenn mich Probleme gequält hatten. Ich bildete mir ein, an der frischen Luft klarer denken zu können. Aber da das Wetter an diesem Tag so wenig verlockend war, beschloß ich, meinen Spaziergang ins Haus zu verlegen.
Mein erster Weg führte mich in den Salon. Ich wollte mich ans Klavier setzen und ein bißchen spielen, aber ich war innerlich so ruhelos, daß ich schon nach den ersten Takten wieder aufsprang. Flüchtig inspizierte ich ein paar andere, seltener benutzte Räume im Erdgeschoß; einen weiteren Salon, ein Arbeitszimmer, den Wintergarten, einen Tanzsaal, dessen Lüster von einer dicken Staubschicht blind und grau geworden waren. Meine Schuhe klapperten auf polierten Holzfußböden. Und überall umgab mich die gleiche strenge Stille. Mir war, als spürte ich in allen Räumen den starren Geist meiner Großmutter, die mit harter Hand über diese Familie herrschte und eisern an der Vergangenheit festhielt, als ob sie die Zeit zum Stillstand bringen wollte.
Nach einem ausgedehnten Rundgang durch das Erdgeschoß, wo ich nur ab und zu einem der Angestellten begegnete, die mich jeweils höflich grüßten, kehrte ich in die Bibliothek zurück, die mir in diesem Haus der liebste Raum war. Ich wanderte von Bord zu Bord und las die Titel der vielen Bücher, die sich hier im Lauf der Jahre angesammelt hatten; vielleicht, dachte ich, würde ich auf einen guten Roman stoßen, in den ich mich eine Weile verlieren konnte.
Doch nach einiger Zeit wurde mir kalt und ich ging zum Kamin, um mich aufzuwärmen. Ich richtete den Blick in die Flammen und ließ mich von ihrem Spiel gefangennehmen. Mein Kopf entleerte sich aller Gedanken, und ich trieb in eine angenehme Welt, wo ich an nichts dachte und nichts fühlte. Mein Blick fiel zufällig auf ein Stückchen Papier am Rand des Feuers. Gedankenlos blickte ich darauf, ehe meine Neugier erwachte. Ich beugte mich ein wenig tiefer und sah, daß das Fetzchen von einem Briefbogen stammte, der beschrieben war. Ich bückte mich und hob es auf und las die wenigen noch erkennbaren Worte. Plötzlich traf es mich wie ein Schlag: Was ich da in den Händen hielt, war ein Überrest meines Briefes an Edward.
Eisiger Schrecken packte mich. »Nein!« flüsterte ich. »Lieber Gott, nein!«
Mir zitterten plötzlich die Knie, und ich ließ mich schwer in einen Sessel fallen. Schweiß trat mir auf die Stirn, und die Kopfschmerzen kehrten wieder.
Mein Brief an Edward war abgefangen worden. Jemand hatte ihn gelesen und dann ins Feuer geworfen. Aber wer? Wem hatte das Mädchen, dem ich die Besorgung anvertraut hatte, den Brief gegeben? Ich drückte mir die Hände an die Schläfen. Nur meine Großmutter konnte solche Macht besitzen. Aber, nein. Auch Henry konnte dahinterstecken. Oder Anna. Vielleicht besaß auch Theo genug Einfluß auf die Dienerschaft, um den Leuten befehlen zu können, jegliches Schreiben, das ich abschicken sollte, unverzüglich zu ihm zu bringen. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Dort in den Flammen brannte mein Brief an Edward. Mein Hilferuf hatte ihn nie erreicht. Meine einzige Verbindung zur Außenwelt war einfach abgeschnitten worden. Einer aus meiner Familie hatte den Brief abgefangen, gelesen, was ich geschrieben hatte –
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