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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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o Gott, und was ich alles geschrieben hatte! – und hatte das Schreiben dann vernichtet. Warum?
    Die Antwort lag auf der Hand: Der Täter wollte nicht, daß Edward etwas von den Geschehnissen hier erfuhr; wollte nicht, daß er hierher kam; wollte verhindern, daß ich Hilfe erhielt.
    Hieß das auch, daß ich in diesem Haus eine Gefangene war? Ich fragte mich, ob die Person, die den Brief vernichtet hatte, auch das Schreiben unter Sylvias Namen abgeschickt hatte. Einer aus meiner Familie – vielleicht auch alle – hatten mich hierher gelockt, um zu erreichen, daß ich dieses Haus niemals wieder verlassen würde, daß ich niemals wieder zu Edward zurückkehren würde.
    Natürlich, das war es. Ich stand langsam auf. So war zumindest Henry von Anfang an gegen meine Heirat mit Edward gewesen. Wollten sie etwa, daß ich auch für immer hier blieb, unverheiratet und kinderlos? Aber erklärte das Sylvias Schreiben? Was hätte meiner Familie daran liegen sollen, auch meine Mutter zurückzuholen? Es ergab keinen Sinn. Ich hatte plötzlich rasende Kopfschmerzen; ich wollte nur noch hinauf in mein Zimmer, mich hinlegen und versuchen, endlich Klarheit zu bekommen.
    Regen schlug gegen mein Fenster, die Luft war feucht und klamm. Das Feuer konnte wenig ausrichten gegen die Kälte, die wie eisiger Atem durch alle Ritzen drang. Ein gemütliches Zimmer war dies heute wahrhaftig nicht, aber wenigstens war ich hier allein und ungestört. Und ich mußte jetzt allein sein. Ich mußte nachdenken, die vergangenen vier Tage in allen Einzelheiten an mir vorüberziehen lassen, um festzustellen, wann der Alptraum begonnen hatte. Aber ich erkannte bald, daß er schon in dem Moment begonnen hatte, als ich draußen an die Tür geklopft und Gertrude mich empfangen hatte. Ich fühlte mich wie in einem Netz gefangen, unfähig, irgend etwas zu verstehen. Nicht den kühlen Empfang und die Heimlichtuerei; nicht die Geschichten über das Ende meines Vaters und die unvermeidbare Krankheit, der angeblich keiner von uns entrinnen konnte; nicht Großmutters abweisende Reaktion auf meine Rückkehr und die Furcht aller davor, daß ich mich an die ausgelöschten fünf Jahre erinnern könnte; nicht Sylvias Brief und die Vernichtung meines Briefes an Edward. Ich hatte nur den verzweifelten Wunsch, mich aus diesem Netz zu befreien.
    Das konnte mir aber nur gelingen, wenn ich mich erinnerte. In mir verschüttet lag das Bild jener Szene im Wäldchen, die ich als Kind mitangesehen hatte. Was konnte ich tun, um es zurückzuholen? Damals war Vergessen Schutz gewesen, jetzt aber mußte ich mich erinnern, um mich zu schützen.
    Als meine Kopfschmerzen nachgelassen hatten und der erste Schrecken vorüber war, bestärkte ich mich innerlich in meinem Entschluß, der Lösung des Rätsels auf die Spur zu kommen. Ich würde noch einmal ins Wäldchen hinuntergehen, ich würde alles tun, was in meiner Macht stand, um die Erinnerung an die Ereignisse jenes Tages heraufzubeschwören, und dann würde ich ihnen allen beweisen, daß mein Vater ermordet worden war. Damit wäre gleichzeitig erwiesen, daß der sogenannte Fluch nichts als eine Erfindung war, ein Hirngespinst, das jemand erdacht hatte, um die Wahrheit über die Verbrechen zu vertuschen. Das Mittagessen nahm ich in meinem Zimmer ein. Dann schlüpfte ich in mein Bett, um nach der schlechten Nacht ein wenig zu schlafen. Gegen vier Uhr nachmittags weckte mich Klopfen an meiner Tür. Als ich öffnete, stand Martha vor mir, offensichtlich aufgeregt, den unvermeidlichen Pompadour im Arm. »Großmutter möchte dich sehen, Leyla.«
    »Jetzt?«
    »Sie hat uns alle rufen lassen. Am besten kommst du gleich mit.«
    Sie wirkte so erregt, daß ich sie durch eine Weigerung nicht noch mehr in Aufruhr versetzen wollte. »Gut«, sagte ich deshalb, eilte ins Zimmer zurück, um mir einen Schal zu holen. »Sie ist doch nicht krank?« fragte ich. »Großmutter ist niemals krank.«
    Damit war unser Gesprächsstoff erschöpft. Schweigend gingen wir durch den Flur zu den Räumen meiner Großmutter. Wie vor den anderen Gesprächen mit ihr, kroch eisige Furcht an mir herauf, und gleichzeitig war ich wütend, daß ich es nicht schaffte, mich ihrer kalten Macht zu entziehen.
    Die Tür stand offen, und wir traten ein, ohne anzuklopfen. Die anderen Familienmitglieder warteten schon. Meine Großmutter thronte wie immer in ihrem Lehnstuhl, das Gesicht im Schatten. Anna saß in einem Sessel vor ihr, auf der einen Seite neben sich Theo, auf der anderen

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