Lockruf der Vergangenheit
Colin. Außer Henry war die ganze Familie anwesend. Keiner beachtete uns, als wir eintraten, alle hielten sie den Blick folgsam auf die mächtige Herrin gerichtet. Die Luft in dem düsteren Gemach knisterte förmlich vor Spannung. Martha trat zu ihrem Bruder, und ich blieb etwas abseits stehen. Dann begann meine Großmutter zu sprechen.
»Ihr wißt alle, warum ich euch gerufen habe. Darum will ich gleich zur Sache kommen. Unter uns befindet sich ein gemeiner Dieb, und ich verlange, daß er ausfindig gemacht wird. Ihr könnt unter euch ausmachen, was zu tun ist.«
Verwirrt blickte ich von einem zum anderen. »Was ist denn passiert?« fragte ich.
»Leyla Pemberton«, antwortete meine Großmutter kalt, »gerade du müßtest wissen, wovon ich spreche.«
»Aber ich weiß es nicht.«
»Es geht um Theos Ring«, sagte Martha leise zu mir. »Er ist verschwunden.«
»Theos Ring?«
»Nicht verschwunden, Kind«, warf meine Großmutter ein. »Er wurde gestohlen. Und ich verlange, daß der Dieb oder die Diebin entlarvt wird.«
Da begriff ich. Es handelte sich um den Rubinring, den Theo von seinem Großvater geerbt hatte. Um den Ring, an den ich mich im Wäldchen erinnert hatte. Auf irgendeine Weise hatte er mit den Ereignissen von damals zu tun, aber ich konnte nicht ausmachen, wo die Verbindung lag. »Aber wer würde denn so etwas tun?« fragte ich.
Niemand antwortete mir.
Plötzlich begriff ich: »Was meinst du damit, daß gerade ich wissen müßte, wovon du sprichst? Beschuldigst du mich, den Ring gestohlen zu haben?«
»Das sind deine Worte«, antwortete meine Großmutter. »Aber das ist ja lächerlich!«
Anna mischte sich jetzt ein. »Du hast ihn neulich erst im Salon bewundert. Wir waren alle dabei.«
»Ich habe ihn nicht bewundert. Ich habe mich lediglich seiner erinnert.«
»Woher kennst du ihn?« fragte meine Großmutter. »Ich – ich weiß nicht. Es war nur eine flüchtige Erinnerung.«
»Ja, wer sollte ihn denn sonst genommen haben?« rief Anna heftig. »Tante Anna! Ich bin empört! Wie kannst du es wagen, mich als gemeine Diebin hinzustellen!«
»Leyla hat recht, Großmutter«, sagte Theo. »Das ist wirklich ungerecht. Es sind vorher schon Schmuckstücke verschwunden. Immer wieder. Ich bin der Meinung, wir sollten die Angestellten verhören.«
Während er mich in Schutz nahm, spähte ich durch die Düsternis zu ihm hinüber, und zum erstenmal sah ich ihn von einer menschlichen Seite. Groß und aufrecht stand er da und widersprach den anderen um meinetwillen. Colin hingegen, gelassen die Arme verschränkt, brachte nicht ein Wort zu meiner Verteidigung hervor. Ich war wütend auf ihn. Nach seinen letzten Worten sah Theo mich mit versöhnlichem Lächeln an, und ich dankte ihm ebenfalls mit einem Lächeln. »Gut, wir werden die Domestiken verhören«, entschied meine Großmutter. »Und wir werden mit aller Gründlichkeit nach dem Ring suchen. Gemeinen Diebstahl innerhalb der Familie lasse ich nicht zu.« Mit einer hoheitsvollen Handbewegung entließ sie uns. Ich war zornig und empört. Diese Zusammenkunft hatte stattgefunden, um mich zu demütigen; nur weil Großmutter aus irgendeiner Laune heraus beschlossen hatte, daß ich schuldig sein müsse. Doch ich ließ mir von meinen Gefühlen nichts anmerken. Ich war nicht bereit, mich von solchen Gemeinheiten, von Drohungen und Beschuldigungen zurückschrecken zu lassen. Im Gegenteil, sie bestärkten mich nur in meiner Entschlossenheit und meinem Kampfeswillen. Es ging um meine Rechte und um die Ehrenrettung meines Vaters.
Draußen im Flur trat ich zur Seite, um Anna vorbeizulassen. Sie warf mir einen Seitenblick zu, und im Schein des Gaslichts sah ich, wie eingefallen ihr Gesicht war und wie erschöpft sie aussah. Sie hatte vermutlich die ganze Nacht bei Henry gewacht, dem es offenbar sehr schlecht ging. Unter dieser Belastung war es verständlich, daß sie reizbar war und nicht fähig, klar zu denken.
Aber als Colin an mir vorüberging, sah ich ihn scharf an. Er schien es jedoch gar nicht zu bemerken. Mein Verdacht, daß er der besondere Vertraute meiner Großmutter war, verstörte mich; denn wenn er zutraf, war Colin nicht der selbstbewußte, eigenwillige Mann, für den er sich ausgab, sondern ein Feigling, der sich von einer alten Frau gängeln ließ. Theo blieb einen Moment neben mir stehen, als er herauskam, und sah mich lächelnd an. Ich sah Anteilnahme in diesem Lächeln und vielleicht eine Spur Reue darüber, wie man mich behandelt hatte. In diesem
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