Lockruf der Vergangenheit
»Was ist geschehen, daß du deine Meinung plötzlich änderst? Gestern abend warst du noch fest entschlossen, uns alle Lügen zu strafen. Und jetzt, über Nacht, bist du kleinlaut geworden und erklärst uns, daß du plötzlich auch an die Krankheit glaubst. Wie ist es dazu gekommen?«
Ich blickte von Colin zu Theo und wieder zu Colin. Martha, die neben mir saß, hatte eine Stickerei aus ihrem Pompadour genommen und arbeitete still daran. Anna rührte mit leerem Blick in ihrer Kaffeetasse. »Es ist nun einmal geschehen.«
»Und weiter?« bohrte Theo.
»Ich habe endlich begriffen, was es heißt, eine Pemberton zu sein. Ich kann die Vergangenheit jetzt ruhen lassen. Was ihr über meinen Vater erzählt habt, ist sicher wahr. Und ich kann nun auch nicht mehr zu Edward zurückkehren. Jetzt nicht und niemals.«
Meine beiden Vettern schienen erleichtert, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Theo war offensichtlich froh, daß ich meine Bemühungen, meine Erinnerungen wiederzufinden, aufgegeben hatte; Colin hingegen lächelte unwillkürlich, als ich von Edward sprach. »Dann weißt du also von dem Tumor?« fragte Theo.
»Ja. Warum hat keiner von euch mir etwas davon gesagt?«
»Weil wir wünschten, daß du dieses Haus verlassen und dein Leben fortsetzen würdest, als gäbe es uns gar nicht.« Theos Stimme war sanft, aber eindringlich. Sein angespanntes Gesicht wurde weich, als er sich über den Tisch beugte und mit teilnahmsvoller Gebärde meine Hände umfaßte. »Du kamst völlig ahnungslos hierher, Leyla, ohne das geringste Wissen über unsere Familie. Du kanntest nicht einmal die wahre Todesursache deines Vaters und deines Bruders. Wir hatten gehofft, wir könnten es dir verschweigen und du könntest wieder von hier fortgehen, wie du hergekommen warst. Doch du zwangst uns, dir Schritt um Schritt die Wahrheit zu enthüllen. Aber immer noch hofften wir, daß du unverbrüchlich an den Idealen des Guten und der Gerechtigkeit festhalten würdest. Selbst gestern abend, als dir unterstellt wurde, den Ring gestohlen zu haben – was ich nicht einen Moment lang glaubte –, hofften wir noch, du würdest so zornig werden, daß du für immer von hier fortgehen und zu deinem Verlobten zurückkehren würdest.«
Ich nickte langsam, überzeugt von der Wahrheit dessen, was er sagte. Daß jemand mich arglistig mit einem gefälschten Brief in dieses Haus gelockt und versucht hatte, mich hier festzuhalten, indem er mein Schreiben an Edward vernichtete, daran dachte ich gar nicht mehr. »Wenn wir dir bewiesen hätten, daß die Krankheit keine Erfindung ist, wärst du geblieben – wie du dich jetzt, wo du die Wahrheit weißt, zum Bleiben entschlossen hast. Es tut mir in der Seele leid, Leyla, daß deine Heimkehr so unglücklich verlaufen ist. Wir haben das nicht gewollt.«
»Es macht nichts, Theo. Es ist besser, die Wahrheit zu wissen.«
»Dann hast du das Buch gelesen?«
»Ja.«
»Wo hast du es gefunden?«
»Jemand hatte es mir ins Zimmer gelegt.« Beide Vettern sahen mich überrascht an.
»Absichtlich, meinst du?« fragte Colin. »Jemand hat es dir absichtlich hingelegt?«
»Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Es ist mir lieber, daß ich die Wahrheit weiß.«
»Aber das war doch gemein, Leyla. Ohne das Buch hättest du immer noch von hier fortgehen und ein glückliches Leben führen können.«
»Hättest du das denn gewollt? Daß ich die Familie weiterführe, während es dir, Theo und Martha verboten war? Würdest du das nicht gemein nennen, Colin? Derjenige, der mir das Buch hingelegt hat, und ich nehme es ihm nicht übel, hat es mit gutem Grund getan. Er wollte mir zeigen, daß euer Verhalten gerechtfertigt ist und daß die Krankheit tatsächlich existiert.« Mir schnürte sich die Kehle zu, während ich sprach. »Hättest du es denn richtig gefunden, Colin, wenn ich geheiratet und Kinder zur Welt gebracht hätte, während ihr hier ein einsames Leben führen müßt?«
Er sagte nichts, und seine grünen Augen blieben unergründlich, dafür erklärte Theo hastig: »Wir sind nicht so unglücklich mit unserem Leben, Leyla. Keiner braucht uns zu bemitleiden. Wir sind reich und können uns allen Komfort und Luxus leisten.«
»Du hast meine Fragen nicht beantwortet, Colin«, sagte ich, »aber es ist auch nicht so wichtig. Einer von euch, vielleicht auch Tante Anna oder Gertrude oder sogar Großmutter, hat mir das Buch ins Zimmer gelegt. Und aus gutem Grund.« Aus dem Augenwinkel sah ich Marthas flink stichelnde Hände und
Weitere Kostenlose Bücher