Lockruf der Vergangenheit
zuerst seinem eigenen Sohn und dann sich selbst das Leben genommen. Der Tumor hatte meinen Großonkel Michael und meinen Großvater umgebracht und hätte auch Colins Vater getötet, wäre dieser nicht vorzeitig durch einen Unfall ums Leben gekommen. Und jetzt hatte die schreckliche Krankheit ihre Hand nach Henry ausgestreckt.
Ich hatte Beweise gewollt, und nun hatte ich sie. Wissenschaftliche Beobachtungen, die von einem glaubwürdigen Mann niedergeschrieben worden waren.
Begann auch in meinem Kopf der Tumor schon zu wachsen, oder lag der Keim des Todes noch im Schlaf? Würde er schon bald wuchern wie ein übles Gewächs der Verderbnis, oder würden mir vielleicht noch viele Jahre bleiben, ehe das Schicksal zuschlug?
Und Martha, und Theo. Wieviel Zeit hatten sie noch? Würden sie, wie Sir Johns Bruder Michael, der Krankheit schon in ihren Dreißigern erliegen, oder würde sie es erst später treffen?
Und Colin? Ich begann zu schluchzen. Lieber Gott, auch Colin war verloren; auch in seinem Gehirn keimte der heimtückische Tumor, der ihn eines Tages in den Wahnsinn und in den Tod treiben würde. Colin…
11
Gertrude weckte mich aus tiefem, traumlosem Schlaf. In schwarze Abgründe versunken, hörte ich ihr Klopfen nicht, sondern kam erst langsam zu Bewußtsein, als sie mich sachte schüttelte.
»Miss Leyla«, murmelte sie leise. »Die Familie macht sich Sorgen. Sie sind nicht zum Frühstück gekommen. Möchten Sie zum Mittagessen nicht aufstehen?«
Ich blinzelte verwirrt. »Zum Mittagessen? Wie spät ist es denn?«
»Halb eins, Miss Leyla. Sind Sie krank?«
Ich setzte mich auf. Meine Bettdecke war so glatt, als hätte ich mich im Schlaf überhaupt nicht gerührt. »Nein, nein. Ich bin nicht krank.« Meine Glieder schmerzten, und mein Nacken war steif. Eigentlich hätte ich hungrig sein müssen, aber ich empfand nur Leere, als wäre in mir für immer etwas erloschen. »Ich komme gleich hinunter, Gertrude. Danke.«
Sie zögerte, sichtlich besorgt.
»Wirklich, es geht mir gut. Sagen Sie der Familie, daß ich gleich hinunterkommen werde.«
»Ja, Miss.«
Sie wandte sich zum Gehen, und mein Blick fiel, als ich ihr nachsah, auf das Buch, das neben dem Sofa auf dem Teppich lag. »Gertrude!«
»Ja, Miss Leyla?«
»Wie geht es meinem Onkel?«
Sie drückte beide Hände auf ihren üppigen Busen. »Er ist sehr krank, Kindchen. Sehr, sehr krank.«
»Ach Gott. Danke, Gertrude, daß Sie mich geweckt haben.« Ich wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, ehe ich aus dem Bett glitt und durch das kalte Zimmer zum Waschtisch lief. Während ich mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser wusch und dann trocknete, fiel mein Blick auf das zierliche Fläschchen mit Rosenwasser, das Edward mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Mit Schrecken dachte ich daran, was ich ihm beinahe angetan hätte. Aber er würde verstehen, verstehen müssen, daß ich jetzt nicht mehr seine Frau werden konnte. ›… die wir als Gehirnfieber bezeichnen… auf gewisse belastete Familien beschränkt… führt unweigerlich zum Tode…‹
Ich öffnete den Flakon und roch daran, um mich mit dem süßen Duft zu füllen. Ich war eine Pemberton, ich war ein Mitglied dieser verfluchten Familie, und darum mußte ich dafür sorgen, daß sie sich nicht fortpflanzte. Ich wollte keinen Sohn gebären, den das gleiche Schicksal erwartete, das mein Vater erlitten hatte; keine Tochter, die leiden würde wie ich jetzt litt. Ich mußte es Edward sagen, ich mußte ihm erklären, daß ich an einer erblichen Krankheit litt und daß es grausam wäre, sie an unschuldige Kinder weiterzugeben. ›… die Krankheit ist nicht zu heilen…‹
Ich wußte schon jetzt, wie er die Nachricht aufnehmen würde – mit ernster Teilnahme, aber ohne wahrhaftiges Mitgefühl. Edward war stolz auf seine vornehme Erziehung, die ihn Mäßigung in allem gelehrt hatte, und ich wußte, er würde mich mit unbewegtem Gesicht betrachten und so zustimmend nicken, als genehmige er einen neuen Grundriß. Um dieser Eigenschaften willen hatte ich Edward einmal geliebt. Ich hatte seine Objektivität, seine kühle Selbstsicherheit und seine Leidenschaftslosigkeit bewundert. Ich hatte ihn so unglaublich kultiviert gefunden, so höflich und wohlerzogen. Aber jetzt, während ich an dem Rosenwasser roch und mich erinnerte, wie kühl und sachlich sein Heiratsantrag gewesen war, begann ich Edward so zu sehen, wie er wirklich war – steif, langweilig und blasiert.
Ich stellte das
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