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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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Schwelle stehen sah. Bewundernd sah er mich an.
    »Wie sehr du deiner Mutter ähnelst«, sagte er leise, und ein schwaches Lächeln spielte um seinen Mund.
    »Sie hatte auch immer so rosige Wangen, wenn sie von draußen hereinkam. Deine Mutter war eine richtige Naturliebhaberin, weißt du. Immer arbeitete sie entweder im Garten oder machte lange Spaziergänge oder ritt für Stunden aus.«
    »Das wußte ich gar nicht.« Ich sah sie vor mir, wie sie in unserer engen, kleinen Wohnung über ihre Näherei gebeugt saß, der Körper schmal und schmächtig, die Haut weiß, weil sie kaum je an die frische Luft kam.
    »Du bist ihr in vielem ähnlich«, fuhr Theo langsam fort. »Sie hat ihr Haar auch immer so getragen.« Er hob den Arm und berührte mit den Fingerspitzen mein lose herabfallendes Haar. »Großmutter fand es unschicklich. Sie sagte, nur lockere Frauenzimmer trügen ihr Haar offen. Selbst nachdem Jenny deinen Vater geheiratet hatte, blieb sie ungezähmt und eigenwillig wie ein Kind.«
    Ich sah Theo erstaunt an. Nie hatte ich ihn in so liebevollem Ton sprechen hören, nie sein Gesicht so weich gesehen.
    »Sie hat mir entsetzlich gefehlt, als sie mit dir fortging, Leyla. Ich war außer mir vor Kummer.«
    Ich trat einen Schritt zurück, denn Theo stand mir ungewöhnlich nahe. »Warum bist du uns dann nicht gefolgt?«
    »Ich konnte nicht, Leyla. Ich konnte einfach nicht.« Ich wandte mich von ihm ab und ging wieder zum Toilettentisch, um mir das Haar zu flechten. Als ich fertig war, drehte ich mich wieder nach Theo um und sagte kühl: »Ich wollte, du wärst uns gefolgt. Es gab Jahre in London, die ich lieber nicht erlebt hätte.«
    Etwas Seltsames ging mit ihm vor, das ich nicht bestimmen konnte. Es war, als würden plötzlich Gefühle in ihm wach, Zorn und Reue, die er lange niedergehalten hatte und die ihm jetzt fast die Fassung zu rauben drohten. »Ich wollte es Leyla. Wirklich, ich wollte es!«
    »Und wer hat dich davon abgehalten? Großmutter? Ach, es ist nicht mehr wichtig, Theo. Ich bin bereit, wie ihr alle die Vergangenheit ruhen zu lassen, denn es kann nichts Gutes bringen, sich an alten Kummer zu erinnern. Wir alle teilen jetzt dieselbe Zukunft, dasselbe Schicksal. Nichts kann je wieder so sein wie früher.«
    Theo sah mich noch einen Moment lang so an, als sähe er gar nicht mich, sondern jemand ganz anderes. Dann aber wich dieser Ausdruck von seinem Gesicht und er machte wieder den selbstsicheren, gewandten Eindruck wie immer. Er plauderte höflich mit mir, während wir zusammen die Treppe hinuntergingen, aber ich hörte ihm kaum zu. Ich hielt nach Colin Ausschau und hoffte sehr, ihn zu sehen. Wir gingen zuerst in den Salon, um vor dem Abendessen noch ein Glas Sherry zu trinken. Martha saß am Kamin und stickte. An ihrer Seite saß der Herr, den ich vom Fenster meines Zimmers gesehen hatte. »Leyla«, sagte Theo hinter mir, »ich glaube, du hast unseren Hausarzt noch nicht kennengelernt. Das ist Dr. Young.«
    Er hatte ein väterliches Gesicht mit gerader Nase und energischem Kinn, und er wirkte so kraftvoll und lebendig, daß ich kaum glauben mochte, daß er fast so alt wie Henry war, also fast sechzig. Sein Lächeln war herzlich, was sich auch in den blitzenden Augen spiegelte. Mehr noch jedoch als das gewinnende Äußere und das warme Lächeln beeindruckte mich Dr. Youngs Stimme. Als ich ins Zimmer trat und sah, wie rasch er aufstand, um mich mit seinem von Herzen kommenden Lächeln zu begrüßen, war er mir augenblicklich angenehm. Doch als er mit seiner weichen, ausdrucksvollen Stimme sagte: »Guten Abend, Miss Pemberton«, wußte ich sofort, daß dies ein Mann war, dem ich vertrauen konnte. Die Stimme war nicht laut, eher gedämpft, aber sie hatte ein so volles Timbre, daß sie den Raum auszufüllen schien. Sie war sanft und doch bestimmt. Es war die Stimme eines Mannes, der sich seiner selbst bewußt war, und wenn Dr. Young mit einem sprach, so hatte man das Gefühl, daß seine Worte wirklich nur an einen selbst gerichtet waren und an niemanden sonst, der sich vielleicht in der Nähe befand. »Guten Abend, Doktor«, erwiderte ich.
    Anna eilte ins Zimmer, während ich sprach, und stellte sich an Dr. Youngs Seite. Sie wartete höflich, wenn auch in sichtlicher Besorgnis, und sagte, nachdem der Arzt und ich noch ein Lächeln getauscht hatten, mit zitternder Stimme: »Dr. Young! Bitte, Sie müssen nach Henry sehen.«
    Er wandte sich ihr mit einem Lächeln zu, das voller Verständnis und Geduld war.

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