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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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Fläschchen nieder und beendete meine Morgentoilette. Dann bürstete ich mein Haar kräftig durch, scheitelte es in der Mitte und flocht es im Nacken zu einem dicken Zopf. Jetzt begann ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Mit der, die ich gestern noch gewesen war, hatte ich nichts mehr gemeinsam. Jetzt wußte ich, daß ich hierher gehörte, in dieses Haus, zu diesen Menschen; daß ich kein Recht hatte, ein sogenanntes gewöhnliches Leben zu führen. Jetzt wußte ich, was es hieß, eine Pemberton zu sein.
    ›… In dem Haus auf dem Hügel, wo Sir Geoffrey und sein Sohn der Krankheit erlagen, leben noch andere Mitglieder der heimgesuchten Familie, die das gleiche Schicksal erleiden werden…‹ Ich legte mir einen Schal um, ehe ich aus dem Zimmer ging, und warf einen letzten Blick in den Spiegel. ›… Denn es ist Gottes Wille, daß der Tumor geboren wird und wächst, daß die Behandlungen der Ärzte nichts gegen ihn fruchten und das Gehirnfieber ›oder Pember Town Fieber‹ sich den geläufigen Arzneien nicht beugt.‹
    Alle außer Henry waren im Speisezimmer, als ich hinunterkam. Ich spürte sofort die niedergedrückte Stimmung; sie paßte gut zu meiner eigenen. Seit ich die Wahrheit über unsere Familie erfahren hatte, war mir, als wäre jeder Funke von Lebendigkeit in mir erloschen, als wäre von mir nur noch eine leere Hülle ohne Kraft und ohne Gefühl übrig. Ich war nicht traurig und nicht verzweifelt; ich war wie taub. Nur Colin sah auf, als ich mich an den Tisch setzte. Er beobachtete mich aufmerksam, aber sein verschlossenes Gesicht verriet nichts von dem, was in ihm vorging. Ich mied seinen Blick, senkte meinen Kopf und tat so, als sei ich sehr hungrig.
    Theo und Anna sahen blaß aus, mit dunklen Ringen unter den Augen. Sie hatten wohl die ganze Nacht bei Henry gewacht, doch völlig außerstande, dem schwer Leidenden irgendwie zu helfen. Martha, den unvermeidlichen Handarbeitsbeutel auf dem Schoß, saß still da und starrte geistesabwesend vor sich hin.
    »Geht es dir gut?« fragte Colin schließlich, als uns zum Abschluß der Mahlzeit Kaffee und Biskuits gebracht worden waren. »Danke, ja. Würdest du mir die Kekse herüberreichen, bitte?« Er gab sich unbekümmert, aber seine Sorglosigkeit wirkte unecht, und ich wußte nicht, für wen er sich bemühte. Anna und Theo waren in ihrer Bekümmertheit versunken, und Martha schien völlig geistesabwesend. Wenn Colin sich um meinetwillen so verhielt, war mir unklar, aus welchem Grund.
    Er wandte den Blick nicht von mir. »Bist du mir denn böse?« Ich sah ihn erstaunt an. »Wieso sollte ich dir böse sein?« Er zuckte die Achseln. »Du bist so seltsam heute. Du wirkst so distanziert und unzugänglich, daß ich glaubte…«
    Ich lachte trocken. »Du bist ganz schön eitel, Colin, wenn du meinst, daß meine Stimmungen von dir abhängen. Nein, mit dir hat das nichts zu tun.«
    »Oh.« Er schien enttäuscht. »Dann sag mir doch bitte, was es ist.« Ohne ihm zu antworten, trank ich den letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse nieder. Den Blick ins Leere gerichtet, dachte ich wieder an jene Passage in Thomas Willis’ Buch – diese eine unscheinbare Buchseite, deren kurzer Text mein ganzes Leben mit einem Schlag verändert hatte. Wo ich allenfalls ein paar Worte über eine Krankheit zu finden erwartet hatte, bei der man mit Mühe vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit mit der angeblichen Erbkrankheit der Pembertons entdecken konnte, hatte ich unwiderlegbaren Beweis dafür gefunden, daß das Leiden der Familie Pemberton Tatsache war. »Was denkst du gerade, Leyla?«
    Ich schüttelte den Kopf und sah Colin an. Für einen Augenblick glaubte ich Wärme und Teilnahme in seinen Zügen zu erkennen. »Ich habe gerade daran gedacht, wie ich als Kind meine Mutter oft dabei ertappt habe, daß sie mich so ansah, als warte sie auf irgend etwas. Vielleicht wartete sie wirklich – auf die ersten Anzeichen des Wahnsinns.«
    »Leyla!« Er beugte sich über den Tisch.
    »Und ihr alle hier! Wie ihr mich angestarrt habt am ersten Tag, als ich ankam! Und eure Fragen, ob ich an Kopfschmerzen leide. Jetzt begreife ich das alles.«
    »Was sagst du da, Leyla?«
    »Ich sage, daß ihr recht hattet. Es gibt die Krankheit wirklich.« Theo fuhr plötzlich herum und sah mich an. Hatte er vielleicht die ganze Zeit nur so getan, als sei er in seinen Kummer versunken? Hatte er in Wirklichkeit aufmerksam zugehört? Es war ohne Belang, und es war mir gleichgültig.
    Colin schien ehrlich entsetzt.

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