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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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Schein des Feuers scharf umrissen abhob, hatte mir gezeigt, daß ihn etwas bedrückte. Seine Lippen waren fest aufeinander gepreßt, der Unterkiefer gespannt, die geschwungenen Brauen waren gerunzelt. Marthas perlendes Spiel hatte das, was Colin offenbar beschwerte, nicht erleichtern können, und als die Musik aufhörte, hatte ich den Eindruck, daß die Spannung ihn fast zu zerreißen drohte.
    Wie seltsam dachte ich, Colins sichtbare Unruhe mit Theos äußerer Gelassenheit vergleichend. Unter den gegebenen Umständen hätte eigentlich Theo es sein müssen, der unter Spannung und Rastlosigkeit litt. Sein Vater war es doch, der oben lag und litt. Doch Theo wirkte eher gelöst und nicht im geringsten beschwert.
    Als Colin sich plötzlich umdrehte und mich ansah, merkte ich, wie mir die Röte ins Gesicht schoß. Er sah mich mit seinen grünen Augen so durchdringend an, als wollte er mir die Blicke, die ich in der vergangenen Stunde auf ihn gerichtet hatte, erwidern; als hätte er die ganze Zeit gewußt, daß meine Augen unverwandt auf ihn gerichtet waren. Ich fühlte mich durchschaut, so daß ich nicht wußte, was ich sagen sollte. »Wer spielt jetzt?« fragte Theo. »Leyla natürlich«, meinte Colin.
    »Nein, nein, ich habe so lange nicht mehr gespielt. Wirklich. Im Vergleich mit Martha – «
    »Spielen Sie nur, Miss Pemberton«, sagte Dr. Young aufmunternd, und angesichts seines freundlichen Lächelns konnte ich es nicht abschlagen. Widerstrebend stand ich auf und ging zum Klavier. »Das wird eine klägliche Vorstellung werden nach deinem Spiel«, sagte ich, während sie sich bückte, um ihren Beutel aufzuheben. »Mein Bruder sagt immer, mein Spiel sei seelenlos«, erwiderte sie. »Vielleicht kannst du es Colin recht machen, Leyla. Ich kann es jedenfalls nicht.«
    Ich bemühte mich, Colins Blicke zu ignorieren, dennoch war ich nervös, als ich mich niedersetzte. Es war wirklich schon recht lange her, seit ich das letztemal gespielt hatte, und als ich meine Finger auf die Tasten legte, tat ich es mit der Befürchtung, alles, was ich einmal gekonnt hatte, verlernt zu haben.
    Ich begann auch tatsächlich sehr unsicher, zum Teil, weil mir die Übung fehlte, zum Teil, weil ich mir immerzu bewußt war, daß Colin mich beobachtete. Daß er eine solche Wirkung auf mich hatte, beunruhigte mich zutiefst, und ich versuchte, in der Musik meine Befangenheit zu verlieren. Aber es gelang mir nicht. Auch wenn das Beethovenstück meine ganze Aufmerksamkeit verlangte, war mir dabei ständig bewußt, daß ich für Colin spielte und nur für Colin, und daß niemand sonst in diesem Raum für mich existierte.
    Als ich ›Für Elise‹ beendete, erntete ich von allen höfliches Lob, aber ich merkte genau, daß Colin mehr von mir erwartet hatte. »Du spielst ausgezeichnet«, sagte Martha. »Viel besser als ich.«
    »Danke, Martha, aber da bin ich anderer Meinung. Theo, möchtest du mich nicht ablösen?«
    »Ich hatte nie musikalisches Talent. Das Klavierspielen überlasse ich lieber Leuten, die darin begabter sind. Colin, zeig Leyla, was für ein Künstler du bist.«
    »Ja, bitte, spiel für uns«, mischte sich Martha ein. »Colin spielt besser als wir alle. Er hat sogar eigene Stücke komponiert.«
    Ich stand vom Hocker auf und wartete darauf, daß er meinen Platz einnehmen würde. Als er mit großen Schritten auf mich zukam, versuchte ich, seinem angriffslustigen Blick auszuweichen, aber ich konnte es nicht, und mein Herz begann wieder schneller zu schlagen. Er setzte sich, und ich kehrte hastig zu meinem Platz neben Dr. Young zurück, und richtete meinen Blick starr ins Feuer.
    Colins Spiel war wirklich ungewöhnlich. Es war mehr als Musik. Die ganze Leidenschaft seiner Seele kam darin zum Ausdruck. Wie ein Zauberer zog Colin uns in seinen Bann und führte uns aus den tiefsten Abgründen in schwindelnde Höhen, spann uns ein in ein Netz vielfältiger Gefühle. Nie zuvor hatte ich so leidenschaftliche Musik gehört, nie zuvor erlebt, daß ein Mensch sich so völlig preisgab wie Colin das mit seinem Spiel tat.
    Und während ich, den Blick weiterhin ins Feuer gerichtet, zuhörte und mich in seinen Bann ziehen ließ, wurde mir auf einmal bewußt, daß ich Colin liebte.

 
    12
     
     
     
    Der Morgen war schon nahe, als ich endlich einschlief. Stundenlang hatte ich mich rastlos in meinem Bett gewälzt, aufgewühlt von neuen Gefühlen und Ängsten. Die Geborgenheit Londons war verloren; verloren war auch der Trost von Edwards Liebe und Schutz;

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