Lockruf der Vergangenheit
auf immer verloren war das strahlende Morgen mit einer Familie und Kindern. Dafür war ich nun in eine Familie aufgenommen, deren Mitglieder samt und sonders zum Wahnsinn verurteilt waren. Dafür hatte ich in mir die hoffnungslose Liebe zu einem Mann entdeckt, der für mich zweifellos nichts als Geringschätzung empfand.
Edward hatte ich fast ein Jahr gekannt, ehe ich mich schließlich in ihn verliebt hatte, und selbst da war es, wie ich nun wußte, nur freundliche Zuneigung gewesen. Ich hatte ihn gemocht, aber Leidenschaft war dabei nicht im Spiel gewesen. Colin hingegen kannte ich gerade sechs Tage, und das Gefühl, das ich ihm entgegenbrachte, war anders als alles, das ich bisher empfunden hatte. Es ergriff mich bis in die tiefsten Winkel meiner Seele, entflammte Leidenschaften, von denen ich nicht einmal gewußt hatte, daß ich sie in mir barg, erschütterte mich so heftig, daß ich gleichzeitig hätte lachen und weinen mögen.
Als ich endlich einschlief, hatte ich wilde, unheimliche Träume. Colin schien meiner Phantasie Flügel gegeben zu haben. Während ich mit schlafendem Auge wundersame Bilder in glühenden Farben sah und von Gefühlen überschwemmt wurde, die bisher brachgelegen hatten, erkannte ich, daß Colin nicht, wie ich zuerst glaubte, einen neuen Menschen aus mir gemacht, sondern nur eine Seite meines Wesens geweckt hatte, die bisher neben meiner vernünftigen Seite hatte zurücktreten müssen. Selbst wenn Colin mir niemals etwas anderes geben sollte, dies hatte er mir gegeben: eine neue, schöne Weise, das Leben zu sehen.
Ich war froh, daß ich beim Frühstück allein war und mich ungestört meinen Gefühlen überlassen konnte – auf der einen Seite der Seligkeit über meine neue Liebe, auf der anderen der Schmerz über das Erbe meiner Familie, das ich annehmen mußte. Es gab keine Zukunft für mich und Colin, selbst wenn er auch mich lieben sollte. Die Krankheit bannte uns wie ein böser Zauber und verbot uns, jemals ein Leben gemeinsam zu führen.
Diese aussichtslose Liebe zu Colin würde mein Geheimnis bleiben, niemand würde je davon erfahren. Ich würde sie immer in mir tragen, mich ihrer freuen und sie hegen, aber niemals würde ich sie auch nur einem einzigen Menschen offenbaren. Das schwor ich mir an jenem grauen, windigen Morgen, als ich wieder zu einem langen Spaziergang aufbrach. Ich hatte wieder Kopfschmerzen, hervorgerufen durch den inneren Aufruhr, und ich hoffte, die frische Luft würde sie vertreiben. Aber als ich aus meinem Zimmer trat und die Tür hinter mir zuzog, sah ich, daß der Tag nicht so angenehm werden sollte, wie ich gehofft hatte.
Martha eilte mit mürrischem Gesicht durch den Flur zu Henrys Zimmer. »Es geht um Theos Ring«, rief sie in Antwort auf meinen Morgengruß. »Großmutter hat die Räume der Dienerschaft durchsuchen lassen und die Angestellten selbst befragt, aber es ist nichts dabei herausgekommen. Jetzt will sie unsere Zimmer durchsuchen.«
»Das ist doch nicht möglich!«
»Doch, und ich finde es ungeheuerlich. Ich wollte, derjenige, der den Ring genommen hat, gäbe ihn endlich zurück.«
»Wieso ist ihr der Ring eigentlich so wichtig?« fragte ich. »Ach, der Ring selbst bedeutet ihr gar nichts; es ist eine Frage des Anstands. Ein Dieb im Haus, das ist für Großmutter unvorstellbar. Sie ist zornig und aufgebracht.«
»Wie geht es Onkel Henry heute morgen?«
»Ich weiß nicht genau. Dr. Young ist über Nacht geblieben und ist jetzt bei ihm. Ich will Tante Anna ablösen, damit sie sich einmal ein wenig ausruhen kann. Sie hat ja tagelang nicht mehr geschlafen. Ach, Leyla, ich finde das alles so furchtbar.«
Mit ihrem Pompadour im Arm und empörter Miene lief Martha weiter. Meine zweiunddreißigjährige Cousine erschien mir in vieler Hinsicht unglaublich kindlich, so verwöhnt und eigensinnig wie ein kleines Mädchen, doch in anderer Hinsicht wiederum benahm sie sich schon wie eine alte Jungfer, so festgefahren in ihren Gewohnheiten, daß sie die geringste Störung übelnahm. Ich sah ihr nach, und fragte mich, ob ich nach sieben Jahren unter diesem Dach genauso sein würde.
Der Spaziergang erfrischte mich, und die Bewegung tat mir gut, aber gegen die Kopfschmerzen half er nicht. Als ich kurz vor Sonnenuntergang heimkehrte, bat ich darum Gertrude, mir mit dem Abendessen etwas Laudanum zu bringen. Niemand von der Familie aß an diesem Abend unten. Anna und Theo wachten bei Henry, dem es sehr schlecht ging. Martha hatte sich in ihr Zimmer
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