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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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zurückgezogen. Colin war ebenfalls nicht da. Ich ging früh zu Bett und schlief, ein ungelesenes Buch aufgeschlagen auf der Brust, sehr bald ein.
    Am Morgen erwachte ich erneut mit Kopfschmerzen. Ich hätte eigentlich beunruhigt sein müssen, aber ich führte die Kopfschmerzen wie zuvor auf die Spannungen und die bedrückende Atmosphäre in diesem Haus zurück und nahm einfach noch einmal etwas Laudanum. Ich streifte fast den ganzen Tag durch den benachbarten Wald, genoß die Freiheit und die Stille der Natur hier auf dem Land und setzte mich am späten Nachmittag mit einer Tasse Tee und einem Buch in mein Zimmer.
    Die tiefe Stille im ganzen Haus war drückend und schwer. Es war, als hielt das Haus selbst den Atem an. Die Zeit schien zum Stillstand gekommen zu sein. Unten huschten die Bediensteten leise durch die Räume und sprachen flüsternd miteinander, als fürchteten sie, durch ein lautes Wort ein Gewitter zur Entladung zu bringen. Aus Henrys Zimmer drang kein Laut. In den oberen Korridoren rührte sich nichts. Alles schien zu warten.
    Als die Kopfschmerzen nach einer Weile wiederkehrten, bat ich Gertrude, Dr. Young zu mir zu bringen.
    Das sachte Klopfen war bezeichnend für den Mann, zurückhaltend und rücksichtsvoll. Ich legte ein Lesezeichen in mein Buch, schloß es und sagte: »Bitte, treten Sie ein.« Gertrude kam zuerst herein. Ihr Blick schweifte rasch und aufmerksam durch das Zimmer, dann wandte sie sich mir zu und musterte mich von Kopf bis Fuß, um sich zu vergewissern, daß ich geziemend gekleidet war, ehe sie dem männlichen Besucher den Weg freigab. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Doktor«, sagte ich zu Dr. Young, der geduldig hinter Gertrude wartete.
    Sie schien mit mir und dem Zimmer zufrieden und trat zur Seite, um Dr. Young vorbeizulassen. Sie schloß die Tür hinter ihm und stellte sich mit gekreuzten Armen und mit wachsamem Blick davor. »Wie geht es Ihnen heute abend, Miss Pemberton?« Die Wärme, die von ihm ausging, schien alle Schatten aus dem Zimmer zu vertreiben, und sein herzliches Lächeln gab mir das Gefühl, bei ihm gut aufgehoben zu sein.
    »Beinahe ausgezeichnet, Sir«, antwortete ich.
    Dr. Young zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mir gegenüber. Sein Blick war sehr aufmerksam. »Was macht Ihnen denn zu schaffen?«
    »Nur ein leichter Kopfschmerz. Es ist eigentlich nichts.«
    »Sollten Sie das Urteil darüber nicht lieber mir überlassen?« Er rückte etwas näher zu mir heran und öffnete seine schwarze Ledertasche. Augenblicklich trat Gertrude an meine Seite, als wolle sie die Untersuchung überwachen. Ich war noch nie von einem Arzt untersucht worden, aber während der Krankheit meiner Mutter war ich bei den Arztbesuchen oft genug dabei gewesen, um zu wissen, was ungefähr ich zu erwarten hatte.
    Als erstes nahm Dr. Young mein Handgelenk, um meinen Puls zu zählen. Dann sah er sich meine Augenlider an, prüfte die Farbe meiner Ohrläppchen, ließ sich meine Zunge zeigen. Als er danach ein Stethoskop herauszog, war ich beeindruckt. Dr. Young schien einer jener Ärzte zu sein, die sich über den neuesten Stand der Wissenschaft unterrichteten und mit neuen Methoden arbeitete. In London hatte nur einer der Ärzte meiner Mutter ein Stethoskop gehabt.
    Dr. Young drückte das lange Rohr aus poliertem Holz auf meine Brust, legte sein Ohr an das offene Ende und sagte: »Bitte tief atmen, und jetzt holen Sie tief Atem und halten Sie die Luft an. Ja, gut. Atmen Sie jetzt wieder aus bitte.«
    Dieses Verfahren wiederholte er sechsmal, wobei er das Rohr immer auf eine andere Stelle meiner Brust drückte. Gertrude stand die ganze Zeit wachsam an meiner Seite. Nachdem Dr. Young das Stethoskop wieder eingepackt hatte, stellte er mir eine Reihe von Fragen.
    »Sehen Sie gut oder verschwimmen Ihnen manchmal die Gegenstände vor den Augen?«
    Die Frage machte mich argwöhnisch. »Ich habe sehr gute Augen«, antwortete ich steif. »Litten Sie in den letzten Tagen an Übelkeit?«
    »Nein.« Gertrudes Hand, die während der ganzen Untersuchung auf meiner Schulter gelegen hatte, schien mir jetzt drückend und schwer zu werden.
    »Wie steht es mit Ihrem Bewegungsapparat? Ist Ihnen aufgefallen, daß sie irgendwelche Bewegungen nicht richtig machen konnten, haben Ihnen Arme oder Beine einmal den Dienst versagt, oder hatten Sie vielleicht plötzliche Schmerzen in einem Ihrer Glieder?«
    »Nichts dergleichen, Doktor.«
    »Hatten Sie in letzter Zeit einmal beim Sprechen Schwierigkeiten?

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