Lockruf der Vergangenheit
Konnten Sie plötzlich die Worte nicht herausbringen? Stotterten Sie oder merkten Sie, daß Sie lallend sprachen?«
»Nein, nichts dergleichen«, sagte ich wieder.
»Gut.« Einen Moment lang sah er zu Gertrude auf, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, dann aber richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Sie sind nicht entspannt, Miss Pemberton. Habe ich irgend etwas gesagt, das Sie beleidigt hat?«
Ich war einen Moment verlegen. »Die Fragen, die Sie mir gestellt haben, Dr. Young«, sagte ich dann, »scheinen mir in eine bestimmte Richtung zu gehen, so als hätten Sie eine bestimmte Vorstellung…« Gertrude neigte sich noch näher zu mir, und ihre Hand wurde noch schwerer auf meiner Schulter.
»Ja, das haben Sie richtig erkannt, Miss Pemberton. Aber Ihre Antworten haben mir gezeigt, daß mein Verdacht falsch war. Ihre Kopfschmerzen sind einzig durch Spannung ausgelöst, sonst nichts.« Seine Stimme war jetzt wieder warm und beruhigend, und Gertrude nahm wie erleichtert ihre Hand von meiner Schulter. »Fürchten Sie, ich hätte den Verdacht, Sie könnten wie Ihr Onkel erkrankt sein? Es tut mir leid, aber wenn ich eine Diagnose stellen will, muß ich fragen. Ich weiß, daß Fragen von einem Arzt beunruhigend sein können. Wenn Sie eine meiner Fragen mit Ja beantwortet hätten…« Er hielt inne. Sein Blick sagte mir den Rest.
»Ich danke Ihnen, Dr. Young. Ich weiß, daß mein Onkel häufig an Kopfschmerzen litt. Und ebenso vor ihm mein Vater.«
»Ja, ich kenne die Krankengeschichte. Das erstemal suchte ich Ihren Onkel vor einem Jahr auf. Es war überhaupt mein erster Besuch auf Pemberton Hurst.« Er lächelte amüsiert. »In East Wimsley schaudern die Leute, wenn man nur den Namen Ihres Hauses nennt. Sie behaupten, hier spuke es. Hier lebten ein Haufen Wahnsinniger und Giftmischer.«
»So ganz unwahr ist das ja nicht«, sagte ich bedrückt. »Später war ich noch zweimal hier, um Ihrer Cousine Martha etwas gegen ihre Migräne zu geben.« Seine blauen Augen blitzten freundlich. »Was Sie angeht, junge Frau, kann ich Ihnen nur viel Ruhe empfehlen. Und versuchen Sie, sich nicht ständig mit Gedanken an Ihren kranken Onkel zu belasten.«
»Ich habe Laudanum genommen«, sagte ich.
Dr. Young runzelte die Stirn. »Das ist ein Mittel, mit dem bei uns viel Mißbrauch getrieben wird. Die Leute halten es für ein Allheilmittel. Insbesondere die Reichen, die nichts zu tun haben, greifen sehr schnell dazu, um sich die Langeweile zu vertreiben. Sie verurteilen die Armen, die Alkohol trinken, während sie selbst in großen Mengen Laudanum zu sich nehmen. Morphium ist gefährlich, Miss Pemberton, und leider allzu leicht greifbar.«
»Ich werde vorsichtig sein.«
»Gut«, meinte er mit einem leichten Lächeln. »Gut.« Ich sah zu Gertrude auf, die immer noch mit strenger Miene neben mir Wache hielt. »Sie können jetzt gehen, Gertrude. Dr. Young ist fertig.«
»Aber Kindchen«, sagte sie.
Ich lachte und gab ihr einen leichten Puff. »Es ist schon in Ordnung, Gertrude. Keine Sorge.«
Widerstrebend ging sie zur Tür, sichtlich unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte. Mich amüsierte es, sie in ihren Vorstellungen davon, was sich gehörte und was nicht, so erschüttert zu sehen. Als sie in meinem Alter gewesen war, hätte kein Arzt sie anrühren, geschweige denn ihre Brust abhören und ihr persönliche Fragen stellen dürfen. Den Mann jetzt mit mir in meinem Zimmer allein zu lassen, mußte ihr als schlimmster Verstoß gegen Sitte und Anstand erscheinen.
»Ich warte draußen, falls Sie mich brauchen, Miss Leyla.« Mit einem scharfen Blick auf Dr. Young fügte sie hinzu: »Gleich in der Nähe.«
»Danke, Gertrude.«
Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte ich mich wieder Dr. Young zu. »Ich hätte Sie gern einen Augenblick gesprochen, wenn es Ihnen jetzt paßt«, sagte ich. »Aber gern, Miss Pemberton, ich stehe zu Ihrer Verfügung.«
»Ich finde das, was mit unserer Familie geschieht, ganz schrecklich. Es macht mir große Angst. Wieso kann man da überhaupt nichts tun?«
»Die Medizin ist voller Geheimnisse, Miss Pemberton.«
»Ich weiß, aber trotzdem, ich finde es so ungerecht, so grausam, daß wir davon wissen und es dennoch nicht verhindern können.« Er sagte nichts, sah mich nur still und abwartend an. »Ich habe weniger um mich selbst Angst, wissen Sie – « ich krampfte meine Finger ineinander, daß sie wehtaten – »als um die anderen. Ich bin die Jüngste und habe
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