Lockruf der Vergangenheit
viele unerklärliche Dinge begegnet. Das hat mich gelehrt, niemals überrascht zu sein.«
Wir schwiegen eine Weile. Das Kapitel aus Thomas Willis’ Buch kam mir in den Sinn, in dem er schrieb, daß die Behandlungen der Ärzte gegen das Gehirnfieber oder ›Pember-Town-Fieber‹ fruchtlos und dies auch ›Gottes Wille‹ sei. Und da stellte sich mir plötzlich, trotz dieser keinen Widerspruch duldenden Worte, eine Frage, die ich Dr. Young nur wegen meines großen Vertrauens zu ihm zu stellen wagte: »Glauben Sie denn, Doktor, daß man, obwohl die medizinische Forschung sich so langsam entwickelt, eines Tages ein Mittel gegen den Gehirntumor finden wird?«
»In der Medizin gibt es immer Hoffnung, Miss Pemberton«, antwortete mir Dr. Young mit einem tröstenden Lächeln, »aber ich sagte Ihnen ja schon, wir wissen kaum etwas über die Funktionen und die Krankheiten des Gehirns. Unsere heutigen Ärzte suchen nach einem Heilmittel für die Schwindsucht, sie versuchen, dem Gallenstein und der Blinddarmentzündung beizukommen. An diesen Leiden sterben weit mehr Menschen als an Krankheiten des Gehirns, und wir stehen ihnen immer noch hilflos gegenüber. Wir brauchen Forscher…« Er schüttelt den Kopf. »Irre ich mich, Doktor«, bemerkte Theo, »oder erwähnten Sie nicht einmal, daß Sie nach East Wimsley gekommen sind, um selbst Forschung zu betreiben?«
»Das ist richtig, ja. Das ist auch der Grund, warum ich aufs Land gezogen bin und meine Stadtpraxis aufgegeben habe. Es war ein Glück, daß damals, als ich herkam, gerade der alte Eichenhof zum Verkauf stand. Dort habe ich Ruhe, bin aber doch nahe genug an der Hauptstraße, um für Notfälle jederzeit zur Verfügung sein zu können. Ich habe dort ein kleines Laboratorium, das sogar mit einem Mikroskop ausgestattet ist.« Theo und Colin, die froh waren, einmal über etwas anderes als Baumwollspinnereien und englische Wirtschaftspolitik sprechen zu können, verwickelten Dr. Young in eine angeregte Unterhaltung, der ich schweigend beiwohnte; ich war zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, um etwas beizusteuern. Ich wollte unbedingt Dr. Young allein sprechen und ihn nach seiner fachlichen Meinung über Thomas Willis’ Befunde fragen. Am liebsten hätte ich ihn sofort ins Verhör genommen und ihn genauer über den Tumor befragt, aber ich wagte es nicht, vor der Familie zu sprechen. Gewiß würde sich zu einer anderen Zeit Gelegenheit ergeben, unter vier Augen mit ihm zu sprechen.
Als Dessert gab es eine Caramelspeise mit Sahne. Ich aß schweigend. Anna, die die ganze Zeit kein Wort gesprochen hatte, entschuldigte sich jetzt, um zu Henry hinaufzugehen. Voller Mitgefühl sah ich ihr nach, als sie müde, mit hängenden Schultern und schleppenden Schrittes zur Tür hinausging. Vielleicht galt meine Anteilnahme auch nicht nur ihr, sondern allen Pembertons, auch mir selbst.
Nach dem Dessert begaben wir uns gemeinsam in den Salon. Die Männer verzichteten, um Martha und mir Gesellschaft leisten zu können, auf ihre Gewohnheit, sich zu einer Zigarre und einem Glas Portwein ins Herrenzimmer zurückzuziehen. Das war wohl der Tatsache zuzuschreiben, daß die Familie unter so starker Belastung stand; denn natürlich blieb keiner von uns von Henrys Leiden unberührt. Seine Qual war ja auch die unsere, und bot einen Ausblick auf das, was eines Tages auch auf uns zukommen würde.
Mit einem Glas Rotwein setzten wir uns alle um den Kamin. Ich gesellte mich zu Dr. Young, der auf einem zweisitzigen Sofa Platz genommen hatte, Colin und Theo ließen sich in zwei Ledersesseln nieder. Martha ging zum Klavier und begann, uns mit einigen leichten Stücken von Chopin zu unterhalten.
In dieser behaglichen Atmosphäre begann ich langsam, mich zu entspannen und freundlichen Träumereien zu überlassen. In den letzten Monaten, seit dem Tod meiner Mutter, war es mir kaum einmal gegönnt, heitere Phantasien zu spinnen. Während Martha, den allgegenwärtigen Pompadour zu ihren Füßen, uns mit ihrem hübschen Spiel erfreute, saß ich in wohliger Zufriedenheit neben Dr. Young.
Angenehm glitt die Zeit dahin, während Martha uns ein Stück nach dem anderen spielte, alle lebhaft und leicht, geeignet, düstere Gedanken zu vertreiben. Als sie nach einer Stunde endlich die Hände von den Tasten nahm, um sich eine Pause zu gönnen, wurde ich mir halb verlegen, halb erschrocken bewußt, daß ich fast die ganze Zeit damit zugebracht hatte, Colin anzusehen.
Sein Profil, das sich vor dem hellen
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