Lockruf der Vergangenheit
einer meiner Verwandten ein Mörder ist, und ich bin fest entschlossen herauszufinden, wer.«
Nun stand ich wieder ganz am Anfang. Die vergangene Woche war ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben. Es war wieder wie am dritten Abend nach meiner Ankunft auf Pemberton Hurst, als ich am großen Tisch im Speisezimmer stand und erregt rief: »Ich glaube, daß der Pemberton-Fluch eine Erfindung ist, ein Schauermärchen, das jemand sich ausgedacht hat, um meinem Vater die Schuld zuzuschieben und den wahren Mörder zu decken!«
Der Beweis aus Thomas Willis’ Buch hatte jetzt keine Bedeutung mehr, da er nun als Lüge enttarnt worden war. Die alte Entschlossenheit erwachte wieder in mir. Die alte Wut und die alte Bitterkeit kehrten dahin zurück, wo eben noch Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und Ergebenheit in die Macht des Schicksals gewesen waren.
Und noch etwas regte sich in mir; etwas Neues, das vorher nicht dagewesen war. Es war Zorn, rasender Zorn darüber, daß durch einen gemeinen Betrug alle Freude und alles Glück aus diesem Haus vertrieben worden waren. Diese eine Seite in Cadwalladers Buch hatte einer ganzen Familie die Hoffnung und die Zukunft genommen. Diese niederträchtige Fälschung hatte Colin, Martha und Theo dazu getrieben, ein einsames Leben zu führen, ein Leben ohne Liebe, ohne Kinder und ohne Zukunft. Sie hatte meine Familie aller Kraft beraubt.
Darum war ich um so fester entschlossen, das Geheimnis von Pemberton Hurst zu lüften.
»Miss Pemberton, draußen ist es schon dunkel geworden«, hörte ich Dr. Youngs gedämpfte Stimme.
»Mir geht so viel durch den Kopf, Dr. Young. Ich muß das alles erst einmal ordnen.« Meine Gedanken überschlugen sich: Tante Sylvias Brief, Theos Ring, die Vernichtung meines Briefes an Edward… Edward, an den ich seit Tagen nicht mehr gedacht hatte. Die alten Fragen stürzten wieder auf mich ein. Wer hatte den Ring gestohlen und warum? War er gestohlen worden, weil er mit den Vorkommnissen im Wäldchen zu tun hatte? Und was war wirklich im Wäldchen geschehen? Wie sollte ich es schaffen, mir ins Gedächtnis zu rufen, was sich an jenem Tag vor zwanzig Jahren dort abgespielt hatte? Wer hatte meinen Brief an Edward verbrannt? Wer hatte meiner Mutter unter dem Namen Tante Sylvias geschrieben?
Ich spürte die Berührung einer Hand auf meinem Arm. Ich hörte eine freundliche Stimme, die behutsam auf mich einsprach, aber ich achtete nicht auf ihre Worte.
Ich zitterte innerlich vor Zorn. Dieser Mörder hatte nicht nur drei Menschen umgebracht, er hatte auch den Lebensmut der Pembertons getötet. Arme Martha! Armer Colin, zornig und bitter. Arme Großmutter, die schon vor ihrem Tod wie in einer Gruft lebte. Und arme Mutter, die in dem Elendsviertel von Seven Dials ein Leben in Armut gefristet hatte, weil sie geglaubt hatte, ihre Tochter sei das Opfer einer bösartigen, heimtückischen Krankheit. Soviel Elend und soviel Unglück durch einen einzigen verbrecherischen Menschen, der sich die Geschichte von der Erbkrankheit der Pembertons ausgedacht hatte.
Die leise Stimme drängte von neuem. Der Sturm des Zorns legte sich, und ich sah endlicher. Young ins Gesicht. »Verzeihen Sie«, sagte ich leise.
»Sie machen ein so seltsames Gesicht, Miss Pemberton. Sagen Sie mir doch, warum Sie das alles auf sich nehmen wollen.«
»Weil ich in gewisser Weise die Verantwortung trage. Ich bin eine Außenstehende; ich habe nicht jahrelang in klösterlicher Zurückgezogenheit gelebt wie die anderen. Ich allein kann die Ereignisse mit objektivem Blick sehen und der Wahrheit auf den Grund gehen. Die anderen werden es nicht tun.«
Er musterte mich aufmerksam, und ich wurde rot unter seinem forschenden Blick.
Ich wandte mich von ihm ab. Ich wollte mich in diesem Moment nicht durchschaut wissen. In mir tobte ein Aufruhr der Gefühle: Liebe zu Colin, Trauer und Schmerz um die Toten, Trotz und Erbitterung gegen den unbekannten Feind und, vor allem – Zorn. »Darf ich Sie jetzt nach Hause bringen?« fragte Dr. Young. Obwohl er mich schon zuvor daran erinnert hatte, wie spät es war, überraschte es mich jetzt, wie lange ich hier gewesen war. Hastig stand ich auf.
»Danke«, sagte ich, »das ist sehr freundlich von Ihnen. Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie von Ihrer Arbeit abgehalten habe. Ich hatte nicht vor, Sie so lange zu belästigen.«
»Aber nein, ich habe mich über Ihren Besuch gefreut und ich bin froh, daß ich Ihnen eine kleine Hilfe sein konnte.« Er meinte es ehrlich, das fühlte
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