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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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ich.
    »Danke, Doktor«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte.«
    »Eines muß ich Ihnen allerdings noch sagen, Miss Pemberton, ehe Sie gehen. Es ist meine Pflicht als Arzt, meinen Befund der Polizei mitzuteilen. Nein, warten Sie«, sagte er, als ich ihn unterbrechen wollte. »Lassen Sie mich ausreden. Ich muß die Polizei unterrichten, das wissen Sie. Aber aus Rücksicht auf Sie und das, was Sie tun müssen, werde ich warten, solange es mir mein Gewissen erlaubt, ehe ich Meldung mache. In der Zwischenzeit haben Sie mein volles Vertrauen.«
    Mrs. Finnegan betrachtete mich immer noch mit Mißbilligung, als Dr. Young mir in mein Cape half, aber es war mir völlig gleichgültig. So vieles war mir gleichgültig geworden. London und Edward gehörten einer Vergangenheit an, die so fern schien wie ein Traum. Nur Colin bedeutete mir etwas in diesem Moment. Colin und meine Familie. Nie werde ich den Geruch feuchten Leders vergessen, der mich empfing, als ich in den Wagen stieg, niemals das Geräusch des Regens, der an die Wände des Wagens prasselte. Der Hufschlag des Pferdes klang dumpf auf den durchweichten Wegen, manchmal knirschten die Räder, wenn sie über einen Stein rollten. Während der Wagen schwankend dahinfuhr, starrte ich auf den nickenden Kopf des Pferdes und die lange Mähne, die am Hals des Tieres klebte. Die Zweige regenschwerer Tannen streiften den Wagen, als wir vorüberfuhren. Regen sprühte hinein, benetzte mein Gesicht und befeuchtete die Decke über meinen Knien. Ich sprach kein Wort. Es gab nichts zu sagen. Dr. Young, der die Zügel hielt, verstand es und ließ mich schweigen.
    An der Stelle, wo die Auffahrt zum Haus von der Straße abzweigte, bat ich Dr. Young anzuhalten.
    »Von hier ist es nur noch ein kurzes Stück, und ich möchte die Familie in dem Glauben lassen, daß ich nur spazieren war.«
    »Gut, wenn Sie meinen«, sagte er widerstrebend. »Aber versprechen Sie mir eines, Miss Pemberton: Wenn Sie zu einer Entscheidung gelangt sind, dann lassen Sie es mich wissen, ehe Sie handeln.« Ich mußte ein wenig lächeln über seine Besorgnis. »Das verspreche ich Ihnen gern. Aber es ist sicher, daß ich etwas tun muß. Und bald. Wir wissen ja nicht, ob der Mörder nicht schon wieder ein neues Opfer gefunden hat. Drei Menschen sind tot. Vielleicht trifft es bald den nächsten.«
    Dr. Young war erschrocken. Dieser Gedanke war ihm offenbar noch nicht gekommen. »Miss Pemberton«, sagte er eindringlich, »seien Sie vorsichtig. Bitte, seien Sie vorsichtig.«
    »Aber gewiß, Doktor. Und nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe heute nachmittag.«
    Dr. Young stieg aus und half mir aus dem Wagen. Nachdem ich mich von ihm verabschiedet hatte, eilte ich mit gerafften Röcken die Auffahrt hinauf, während der Wagen davonfuhr.
    Jetzt, da ich allein war, konnte ich beginnen, etwas Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Colin hatte natürlich Vorrang, würde ihn immer haben. Ja, ich mußte zugeben, daß Colin der einzige war, der durch Henrys Tod gewonnen hatte. Aber das besagte noch lange nicht, daß er selbst das vorher gewußt hatte. Es war möglich, daß Colin genau wie Theodore geglaubt hatte, Henry hätte ein Testament hinterlassen. Wenn dem so war, folgte daraus, daß nicht derjenige, der tatsächlich durch Henrys Tod gewonnen hatte, der Schuldige war, sondern viel eher derjenige, der erwartet hatte, aus dem Tod Nutzen zu ziehen.
    Diese Überlegung erschien mir überzeugend. Aber als ich mich dem Haus näherte, und seine Türme über den Baumkronen auftauchten, fielen mir mein Vater und Sir John ein. Diese beiden Todesfälle paßten nicht zu meiner Vermutung. Es war zwar möglich, daß Theo geglaubt hatte, durch den Tod seines Vaters ein Vermögen zu gewinnen; was aber sollte er sich davon erhofft haben, meinen Vater und Sir John zu ermorden? Außerdem war er zu der Zeit, als Sir John sich vom Ostturm gestürzt hatte, mit seiner Familie in Manchester gewesen.
    Es ergab keinen Sinn. Für jeden einzelnen Mord konnte ich einen Grund finden; ein gemeinsamer war nicht zu erkennen. Und doch waren alle Morde auf die gleiche Weise verübt worden.
    Mit dieser äußerst schwierigen Frage beschäftigte ich mich, als ich naß und frierend die Treppe zum Haus hinauflief.
    Martha riß überraschend die Haustür auf, noch ehe ich sie erreicht hatte.
    »Leyla!« rief sie atemlos. »Wo bist du so lange gewesen? Niemand wußte, daß du ausgegangen bist. Die anderen sind seit Stunden zu Hause, und wir haben

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