Lockruf der Vergangenheit
uns große Sorgen um dich gemacht.«
»Ich war spazieren«, erklärte ich kurz.
»Großmutter ist wütend. Wirklich, ich habe sie noch nie so wütend erlebt. Sie wartet seit einer Ewigkeit auf dich – «
»Warum denn? Was soll ich denn jetzt wieder getan haben?«
»Komm erst einmal herein. Nein, nein, du kannst jetzt nicht nach oben gehen. Sie ist im Salon. Mit allen anderen.«
»Aber ich bin ganz durchnäßt.«
»Das kommt davon, wenn man im Regen spazierengeht«, versetzte sie mit einer Schärfe, die mir bei ihr fremd war. »Los, komm jetzt, sonst fällst du noch tiefer in Ungnade.«
Nicht bereit, mich einschüchtern zu lassen, ließ ich Martha davoneilen, während ich ohne Hast Handschuhe, Hut und Umhang ablegte. Willis’ Buch steckte ich in die tiefe Tasche meines Umhangs, ehe ich, mit gleichgültiger Miene, in den Salon ging.
Das Bild war das übliche: Großmutter, unbeugsam und hoheitsvoll im Lehnstuhl, Anna und Martha vor ihr sitzend, zwischen ihnen stehend Theo. Colin war nicht zugegen.
Ich setzte mich nicht. Die Stimmung im Raum war düster, geprägt von der Strenge meiner Großmutter, von ihrer Kälte und ihrer Abneigung gegen Fröhlichkeit und Geselligkeit. Diese harte, versteinerte Frau beherrschte dieses Haus und ihre Familie wie eine Tyrannin. »Wo bist du gewesen?« fragte sie scharf, und ihre Blicke schienen mich durchbohren zu wollen.
»Ich habe einen Spaziergang gemacht, Großmutter.«
»An einem Tag der Trauer? Nennst du das Achtung vor den Toten?«
»Wir trauern jeder auf seine eigene Weise, Großmutter.«
»Komme mir nicht ungezogen. Ich bin nicht in Stimmung, mir deine Unverschämtheiten gefallen zu lassen. Ich bin äußerst verärgert über etwas, das heute geschehen ist.« Sie preßte die Lippen so fest aufeinander, daß alles Blut aus ihnen wich und sie nur noch zwei harte weiße Linien waren. »Wir haben einen Dieb im Haus!« rief sie mit schriller Stimme. »Und ich dulde keine Diebe unter meinem Dach.« Ich hätte beinahe lachen müssen, weil ich an den Mörder unter diesem Dach denken mußte, aber ich nahm mich zusammen und blieb ernst. Ich war nicht erpicht darauf, mir den Zorn dieser Frau zuzuziehen. »Soll ich wieder einmal die Schuldige sein?« fragte ich kühl. »Ich beschuldige niemals. Das tun nur Schwächlinge. Aber ich verlange, daß das aufhört. Ich werde dafür sorgen, daß der Dieb gefaßt wird und seine Strafe bekommt. Der Diebstahl ereignete sich heute morgen, während ein Teil der Familie bei der Beerdigung war. Meine Schwiegertochter entdeckte ihn bei ihrer Rückkehr. Man stahl ihr eine wertvolle Kette und eine Brosche aus ihrem Zimmer, während sie ihrem toten Mann die letzte Ehre erwies.«
Ich sah zu Anna hinüber, die mit weißem, angespanntem Gesicht in ihrem Sessel saß. Sie wirkte überreizt und äußerst nervös. »Woher weißt du, daß die Sachen heute morgen gestohlen wurden?« fragte ich.
Meine Großmutter runzelte unwillig die Stirn. Es paßte ihr nicht, daß ich an ihren Worten zweifelte.
»Anna sagte, ehe sie ging, seien sie noch dagewesen. Von dir, meine Liebe, möchte ich wissen, wo du heute nachmittag spazierengegangen bist.«
Ich erwiderte, ohne mich einschüchtern zu lassen, ihren herrischen Blick. Ich würde mich dieser starrköpfigen alten Frau nicht unterwerfen. Ich wurde der Notwendigkeit, meiner Großmutter zu antworten, durch Colins Erscheinen enthoben.
»Ah, eine Familienversammlung«, sagte er von der Tür her. Ich drehte mich um. Mein Herz machte einen Sprung – es war ein ganz neues Gefühl für mich, das ich verwirrend und angenehm zugleich fand. Sein Blick glitt flüchtig über die anderen hinweg und blieb schließlich an mir hängen. Ein feines Lächeln, kaum merklich, flog über sein Gesicht, als unsere Blicke sich trafen, und ich hatte den Eindruck – ich betete förmlich darum, daß er stimmte! –, daß Colin das gleiche freudige Erschrecken verspürte wie ich.
Die Miene meiner Großmutter blieb unbewegt, aber ihre Haltung änderte sich auf kaum merkliche Art und damit die Atmosphäre im Raum: Sie wurde freundlicher, wärmer. Das konnte ich nun überhaupt nicht verstehen: Colin war kein Pemberton und doch schien er der Grund für diese Änderung zu sein.
Mit großen Schritten durchmaß er das Zimmer und war an meiner Seite. Er gab sich lässig, nonchalant, als hätte er nicht die geringste Sorge der Welt.
»Tante Anna hat also ihre Lieblingskette verloren?«
»Nicht verloren«, korrigierte meine Großmutter
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