Lockruf der Vergangenheit
Welt überzeugen mußten.«
»Aber das ist doch unmöglich! Wenn Ihre Theorie zutrifft, und es gar keinen Tumor gibt, woran sind dann mein Vater, mein Großonkel und mein Großvater gestorben?« Ich hielt einen Moment inne und sah Dr. Young erschrocken an. Ich sah ihm an, daß er die gleichen Gedanken hatte wie ich. »Woran ist denn mein Onkel Henry gestorben?«
»Miss Pemberton«, sagte Dr. Young und legte mir leicht die Hand auf den Arm. »Gestatten Sie mir, daß ich Sie ein Weilchen allein lasse. Ich möchte in meinem Laboratorium eine Untersuchung vornehmen. Ist Ihnen das recht?«
»Ja, natürlich, aber – «
»Ich werde Ihnen nachher alles erklären, falls sich als wahr herausstellen sollte, was ich vermute. Sollte ich mich geirrt haben, so werden Sie weiterhin an die Existenz des Tumors glauben müssen. Sind Sie damit einverstanden? Ich bleibe nicht lange weg, und Sie können jederzeit Mrs. Finnegan läuten, wenn Sie etwas brauchen.«
»Ja.«
Stocksteif saß ich da und sah ihm nach, als er hinausging. Ich mußte ihm jetzt vertrauen. Ganz gleich, was er jetzt dort unten in seinem geheimnisvollen Laboratorium tat, ganz gleich, welche Antwort er mir zurückbringen würde, ich würde sie bedingungslos annehmen dürfen.
Der Regen war stärker geworden, und das Feuer mußte in der folgenden Stunde mehrmals von Mrs. Finnegan geschürt werden, aber mir wurde die Zeit nicht lang. Ich war in Gedanken bei Colin, den ich liebte, trotz seiner Launen und seiner unberechenbaren Stimmungen. Ich liebte ihn immer noch, obwohl er mir nicht die Wahrheit über sich gesagt hatte. Er mußte einen guten Grund dafür gehabt haben, sonst… Als Dr. Young zur Tür hereinkam, fuhr ich zusammen und bekam beinahe einen Schrecken bei seinem Anblick. Das war nicht mehr der elegante alte Herr, der mich empfangen und bewirtet hatte. Er hatte den grauen Gehrock abgelegt und stand in Hemdsärmeln, wie ein Arbeiter, vor mir. Und auf seiner Weste waren zu allem Überfluß auch noch undefinierbare Flecken. Aber noch mehr als sein Aussehen erschreckte mich der Ausdruck seines Gesichts. Es verriet unverkennbar tiefes Entsetzen.
Ich sprang auf.
»Miss Pemberton«, begann er stockend. »Bitte setzen Sie sich.«
»Was ist denn?«
»Bitte, ich – « Er kam durch das Zimmer auf mich zu und nahm meine Hände. »Miss Pemberton, bitte setzen Sie sich.« Wir setzten uns beide auf das Sofa. Er ließ meine Hände nicht los. »Wie Sie wissen«, begann er, »habe ich mich hierher aufs Land zurückgezogen, um in Ruhe meiner Forschungsarbeit nachgehen zu können. Ich kann mir vorstellen, daß Sie über wissenschaftliche Forschung nicht viel wissen, lassen Sie mich darum nur sagen, daß man zu solcher Arbeit ein Laboratorium, gute Geräte, bestimmte Chemikalien und gewisse – andere Substanzen braucht. Bei meiner Forschungsarbeit brauche ich insbesondere menschliches Blut, um die notwendigen Untersuchungen und Versuche durchführen zu können. Mit meinen Chemikalien – ach, es ist ein kompliziertes Verfahren, Miss Pemberton, bei dem ich mit dem Blut gesunder und dem Blut kranker Personen experimentiere, weil ich hoffe, auf diesem Weg der Ursache und dem Wesen bestimmter Leiden auf die Spur zu kommen. Denn erst wenn diese mir bekannt sind, kann ich vielleicht ein Heilmittel entwickeln. Es ist nicht einfach, die für meine Untersuchungen nötigen Blutproben zu bekommen. Im Rahmen des neuen Post Mortem-Gesetzes kann ich mir zwar aus den Londoner Krankenhäusern Blut liefern lassen, aber es kommt in der Regel in schlechtem Zustand hier an. Darum bemühe ich mich, auch hier an Ort und Stelle Blutproben zu bekommen, von den Spinnereiarbeitern zum Beispiel, die ich wegen eines Unfalls oder einer Krankheit behandle. Nach dem Tod Ihres Onkels, Miss Pemberton, erlaubte ich mir, Ihre Tante zu fragen, ob ich eine Blutentnahme vornehmen dürfte, und sie war so liebenswürdig, es mir zu gestatten. Ich hatte also in meinem Laboratorium in einem mit Äther gekühlten Behälter eine Phiole mit Blut Ihres Onkels.« Er hielt einen Moment inne.
»Bitte fahren Sie fort, Dr. Young«, sagte ich ruhig. »Ich falle nicht in Ohnmacht.«
»Gut. Als wir vorhin miteinander sprachen, stellten Sie eine durchaus berechtigte Frage. Woran ist Ihr Onkel gestorben? Dabei kam mir der Gedanke, daß ich das bei mir vorrätige Blut untersuchen könnte.« Ich drückte mir die Hand auf die feuchte Stirn. »Bitte, Dr. Young, sagen Sie mir doch, was Sie gefunden haben.«
»Ihr Onkel,
Weitere Kostenlose Bücher