Lockruf der Vergangenheit
gingen schweigend nebeneinander her, und ich genoß es, seine Nähe zu spüren, seine Wärme und seine Entspanntheit. So ganz anders war dieser Mann, der da mit leichtem Schritt und unbekümmert schwingenden Armen an meiner Seite ging, als der steife Edward, den ich, wie mir schien, vor Ewigkeiten einmal gekannt hatte. Am Ende der Treppe blieb Colin stehen und faßte mich sanft am Arm. »Eine Gemeinheit«, sagte er, »dich des Diebstahls zu beschuldigen.« Ich senkte nur schweigend den Kopf. Sein leidenschaftlicher Ton hatte mich tief berührt. Doch die Anschuldigungen meiner Großmutter ließen mich im Grund kalt; sie waren nichts im Vergleich zu dem, was ich während meines Besuchs bei Dr. Young erfahren hatte. Ich hob den Blick und sah Colin an, erstaunt und beglückt über die prickelnde Aufregung, die ich in seiner Gegenwart verspürte. Sein Haar war zerzaust wie fast immer, sein Halstuch saß schief, aber gerade darum liebte ich ihn. Ich liebte ihn um seiner menschlichen Schwächen und seiner Fehlbarkeit willen. Und ich fragte mich, was für Gefühle er mir entgegenbrachte.
»Heute abend ißt jeder hier im Haus für sich, Leyla. Ich sage Gertrude, daß sie dir etwas Gutes hinaufschicken soll.«
»Danke dir.«
Er sah mich noch einen Moment an, schien etwas sagen zu wollen, drehte sich aber dann unvermittelt um und eilte die Treppe wieder hinunter. Ich kleidete mich gleich aus, als ich in meinem Zimmer war, schlüpfte in Nachthemd und Morgenrock und setzte mich dann auf das Sofa vor dem Kamin. Wie versprochen erschien kurz darauf Gertrude mit meinem Abendessen. Sie benahm sich seltsam, fand ich, sehr zurückhaltend, beinahe mißtrauisch. Ich erkundigte mich nach ihrem Befinden, aber sie gab mir nur eine einsilbige Antwort und ging wieder aus dem Zimmer. Dem Abendessen folgte ein Glas warmer Milch, das mir ein Mädchen heraufbrachte, und während ich sie in langsamen Schlucken trank, überließ ich mich meinen Gedanken. Zahllose Fragen gingen mir durch den Kopf. Was hatte es mit den gestohlenen Schmucksachen auf sich? Wer hatte meine Mutter und mich hierher locken wollen, indem er uns unter Sylvias Namen den Brief geschrieben hatte? Wer hatte mein Schreiben an Edward vernichtet? Und wer war die Frau, die ich im Zimmer meiner Großmutter hatte weinen hören?
Auf all diese Fragen wußte ich keine Antwort. Rätsel, die vielleicht nur Teile eines viel größeren Rätsels waren. Wenn ich nur wüßte, wie sie alle zusammengehörten!
Ich lehnte mich behaglich in die Polster und schaute in das hell lodernde Feuer, das mich angenehm wärmte. All diese kleinen Geheimnisse waren Teile des einen großen Geheimnisses, das ich von Anfang an aufzudecken versucht hatte: Wer hatte damals im Wäldchen meinen Vater und meinen Bruder getötet?
Die Antwort auf diese Frage lag in meiner Erinnerung begraben. Ich würde immer wieder ins Wäldchen zurückkehren müssen, solange, bis eines Tages alle Umstände stimmten – die Witterung, das Licht, die Tageszeit, vielleicht sogar die Jahreszeit – und plötzlich der Vorhang sich öffnete, hinter dem meine Vergangenheit verborgen war. Mein Kopf begann wieder zu schmerzen. Verärgert über diese neue Empfindlichkeit, die ich von mir nicht gewöhnt war, begann ich, im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich hatte nie unter Kopfschmerzen gelitten. Wieso war ich jetzt auf einmal so anfällig? Dr. Young hatte erklärt, sie wären durch Spannung ausgelöst. Aber ich fühlte mich überhaupt nicht angespannt. Und jetzt verspürte ich auch noch leichte Übelkeit, genau wie schon am Morgen, als würden diese Anfälle von Mal zu Mal schlimmer.
Als ich vor dem Spiegel stand und mir gerade eine großzügige Dosis Laudanum eingießen wollte, sah ich plötzlich im Spiegel meine Hände. Aus irgendeinem Grund ließ der Anblick mich innehalten. Ich blickte auf das Glas in meiner Hand. Dann auf die Phiole, die Dr. Young mir mitgegeben hatte. Und plötzlich schossen mir die Worte durch den Kopf, die er gesprochen hatte. ›Die Menge Digitalis, die Ihr Onkel im Blut hatte, dienten nicht der Behandlung eines Herzleidens. Man hat ihm das Mittel gegeben, um ihn zu vergiften… und er wollte sich mit Laudanum von den Symptomen befreien. ‹ Ich erstarrte vor Entsetzen.
Seine Stimme fuhr fort: ›Kopfschmerzen, Übelkeit, Leibschmerzen… gehören alle zum Krankheitsbild eines Leidens von ganz anderer Art als eines Gehirntumors.‹
»Mein Gott!« rief ich laut heraus. »Mein Gott! Man will mich vergiften.«
Ich
Weitere Kostenlose Bücher