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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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war, als wir alle ihm zum Türmchen gefolgt waren. Ich atmete schneller. Mir war unheimlich in der beklemmenden Finsternis, aber ich dachte nicht an Umkehr. Ich war sicher, daß Colin gute Gründe hatte, mich hierher zu bringen.
    Es wunderte mich schon gar nicht mehr, als wir vor dem kleinen Torbogen anhielten, hinter dem die Treppe zum Türmchen sich emporschwang. Dennoch schauderte ich bei der Erinnerung an jene Nacht. Colin beobachtete mich schweigend. Sein Gesicht war seltsam bleich im flackernden Schein der Kerze.
    »Anders geht es nicht, Leyla«, sagte er leise. »Es tut mir leid.« Ich sah ihm aufmerksam in die Augen.
    »Wir müssen vermeiden, daß wir belauscht werden, und Großmutter hat überall ihre Spitzel. Ist es sehr schlimm für dich, da hinaufzugehen?« Ich spähte hinauf, wo die schmale Treppe in der Dunkelheit verschwand. Colin hielt meine Hand sehr fest. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und schmeckte noch ein wenig Großmutters Sherry. »Ja. Aber ich kann verstehen, warum du dort hinauf willst. Was du mir sagen willst, ist wohl sehr wichtig?«
    »Ja. Ich bin froh, daß du mir vertraust, Leyla. Ich hatte Angst, du würdest es nicht tun. Gehen wir?«
    Mit der Kerze in der Hand ging er mir voraus, langsam eine Stufe um die andere nehmend. Meine Hand ließ er nicht los, hielt sie so fest, daß ich sie ihm nicht hätte entziehen können. Meine Neugier siegte über meine Angst. Was hatte Colin mir so Wichtiges mitzuteilen, daß dafür kein anderer Ort im Haus sicher genug war?
    Oben angelangt, blieb ich einen Moment schaudernd stehen. Ich mußte mich unwillkürlich an Henrys wahnverzerrtes Gesicht und weit aufgerissene Augen erinnern. Colin stellte die Kerze auf den Steinboden, in sicherer Entfernung von meinen Röcken und doch so nahe, daß wir etwas Licht hatten. Das Turmzimmer war ein kleiner, runder Raum, klamm und kalt, mit einem Fenster, das zum nächtlichen Wald hinausblickte. »Von hier hat unser Großvater sich hinuntergestürzt«, bemerkte Colin und nahm nun auch meine andere Hand. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, seine Stimme war ohne Ausdruck. »Hast du mich hierher gebracht, um mir das zu sagen?«
    »Nein, Leyla, das ist nicht der Grund, weshalb ich dich hierher gebracht habe.« Colins Stimme klang seltsam fern. »Zunächst wollte ich dir sagen, daß ich über das, was ich gleich tun werde, lange nachgedacht habe. Du sollst wissen, daß ich es nicht leichten Herzens tue. Es bewegt mich schon seit dem Morgen, an dem du uns gesagt hast, du hättest Thomas Willis’ Buch gelesen. Erinnerst du dich?«
    »Ja, natürlich.«
    »Du warst so sonderbar an dem Morgen, Leyla. Das hat mich sehr beunruhigt, und es hat mich seitdem eigentlich unablässig geplagt. Mehrmals war ich nahe daran, mit dir zu sprechen, aber dann habe ich es mir aus diesem oder jenem Grund immer wieder anders überlegt. Aber jetzt…« Seine Stimme war noch leiser geworden, kaum mehr als ein Flüstern, und er trat einen Schritt näher an mich heran. Ich sah ihn an wie hypnotisiert, erregt durch seine Nähe, gespannt darauf, was er mir zu sagen hatte. Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er: »Ich werde es nicht länger aufschieben.« Er sah sich um, spähte angespannt in die Dunkelheit jenseits unserer kleinen Lichtpfütze. »Es darf uns niemand belauschen. Niemand darf wissen, daß wir hier oben sind, Leyla. Wenn du ein lautes Geräusch machen solltest, schreien solltest, darf niemand es hören.«
    »Warum sollte ich schreien?«
    »Es war nur ein Beispiel, um dir klarzumachen, wie wichtig es ist, daß wir ungestört sind. Ich glaube, hier sind wir sicher vor dem Rest der Familie. Ich habe dich absichtlich hier heraufgebracht, weil keiner erfahren darf, was hier vorgeht.«
    »Colin, du weißt, daß ich dir vertraue.«
    Ich hatte den Eindruck, daß er lächelte. Kein Geräusch war zu hören, nichts rührte sich außer den tanzenden Schatten, die unsere Kerze warf. Colin und ich waren ganz allein.
    »Leyla.« Er drückte meine Hände noch fest. »Ich weiß, daß du mich bisher nicht gemocht hast und mir gewiß auch nicht getraut hast. Ich kann dir das nicht verübeln. Aber ich muß dich jetzt bitten, mir rückhaltlos zu vertrauen, ganz gleich, was geschieht.«
    Ich war gebannt von seiner Stimme und seinem Blick. »Ja«, flüsterte ich.
    »Dann verzeih mir, was ich jetzt tun werde. Ich fürchte, es wird schmerzhaft werden für dich.«
    Ein wenig verwirrt antwortete ich: »Ich würde dir alles verzeihen,

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