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Lockruf des Blutes

Lockruf des Blutes

Titel: Lockruf des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanne C. Stein
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ebenfalls deutlich anzusehen. Das würde einen gewaltigen Vertrauensvorschuss von meiner Seite bedeuten. Ich kenne dich nicht. Ich traue dir genauso wenig wie du mir. Ich finde, du solltest jetzt gehen. Gleich kommen Schüler.
    Weißt du, wo Trish ist?
    Die Frage scheint ihn zu überrumpeln. Etwas flackert in der Tiefe seiner Augen, schlägt kleine Wellen auf den stillen, dunklen Wassern seiner Gedanken. Doch er fängt sich rasch, und das Zögern währt nicht länger als das Flattern eines Kolibriflügels – so schnell vorbei, dass man glaubt, man hätte es sich nur eingebildet.
    Würdest du mir denn glauben, wenn ich nein sage? Ich hoffe, sie ist in Sicherheit. Und jetzt geh bitte. Meine Schüler kommen. Sie werden meine volle Aufmerksamkeit brauchen.
    Ich blicke an ihm vorbei durch die offene Tür ins Klassenzimmer. Ich sehe niemanden.
    Er tippt mit dem Zeigefinger an einen Nasenflügel. Ich brauche sie nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie kommen.
    Und wie aufs Stichwort knallt auf dem Parkplatz eine Autotür zu. Dann noch eine, und noch eine. Noch dreißig Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Daniel Frey kann das Nahen eines Menschen vermutlich ebenso leicht wittern wie ein Panther im Dschungel eine angebundene Ziege.

Kapitel 9
    I ch setze mich an einen der Tische vor dem Theatersaal und beobachte, wie stille Teenager mit ernsten Mienen in Freys Unterrichtsraum strömen. Ich weiß nicht, was ich mir von dieser Lauschaktion erhoffe, aber mir fällt nichts anderes ein. Daniel Frey hat mich mit seiner scheinbar so aufrichtigen Art, von seinem Gestaltwandler-Trick ganz zu schweigen, völlig aus der Bahn geworfen. Ich habe ihm viel mehr erzählt, als ich ihm unter diesen Umständen hätte anvertrauen dürfen. Und er hat mir im Grunde gar nichts gesagt.
    Gute Arbeit, Anna.
    Frey empfängt die Schüler an der Tür zu seinem Klassenzimmer. Er ignoriert meine Anwesenheit, obwohl er sie spürt, wie ich weiß. Seine Gedanken berühren meine ein, zwei Mal ganz kurz, als wollte er meine Reaktion auf diese Szene erkunden.
    Ich habe keine. Noch nicht. Alles, was ich habe, sind noch mehr Fragen.
    Die wartenden Schüler, ebenso viele Jungen wie Mädchen, bilden bald eine Schlange, die sich von der Tür des Unterrichtsraums bis auf das Fleckchen Rasen direkt vor meiner Bank erstreckt. Aus irgendeinem Grund dachte ich, Freys Ausstrahlung würde nur Mädchen anziehen. Doch die Schüler, die sich hier versammeln, sind eine Mischung aus coolen Typen und Außenseitern, modelmäßig hübschen Cheerleadern und mausgrauen Bücherwürmern. Sie alle fühlen sich von Frey angezogen, und über ihn auch zueinander. Er ist wie ein moderner Rattenfänger von Hameln. Ich bin nicht sicher, ob ich das gut oder schlecht finden soll.
    Die Szene, die ich da beobachte, erinnert mich an meine eigenen Erfahrungen an der Highschool. Während der ersten beiden Jahre dort war ich glücklich und sonnte mich im Abglanz eines großen Bruders, der ungeheuer beliebt war. Dann, in meinem dritten Highschool-Jahr, war er nicht mehr da. Erst ging er ans College, und dann war er fort. Endgültig fort.
    Ich kenne also dieses Gefühl des Verlusts, diese Leere. Einige dieser Kinder waren vielleicht mit Barbara befreundet. Und wenn nicht – kein Teenager rechnet damit, dass eine Klassenkameradin mit sechzehn Jahren stirbt, von Mord ganz zu schweigen. Das ist unnatürlich und erschütternd. Frey hat anscheinend den Dreh raus, diesen Jugendlichen zu vermitteln, dass die Traurigkeit und Angst, die sie jetzt empfinden, ein normaler Bestandteil des Trauerprozesses ist.
    Entweder das, oder er bereitet sie sich gerade für eines seiner »besonderen Programme« vor.
    Um kurz vor neun führt er seine Schäfchen zum großen Auditorium, wo meine Mutter und Chief Williams zu den Schülern sprechen werden. Ich folge ihnen, bis sie an Moms Büro vorbeikommen. Ich sehe keinen Sinn darin, mir in diesem Vortrag Dinge noch einmal anzuhören, die ich schon weiß. Später werde ich wiederkommen, um Frey zu befragen, aber erst will ich Carolyn treffen.
    Ich schlüpfe in Moms Büro, um David anzurufen. Er hebt beim ersten Klingeln ab.
    »Hast du etwas zu den Namen, die ich dir heute Morgen gegeben habe?«, frage ich.
    Ich höre Papier rascheln. »Mit wem soll ich anfangen?«
    »Wie wäre es mit Daniel Frey?«
    »Das ist mal eine interessante Type«, sagt David. »Er ist zweiundvierzig, geboren in Boston, Abschluss in Harvard. Ist vor etwa zehn Jahren an die Westküste gekommen, war vorher

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