Lockruf Des Mondes
erreicht hatten, war die Haushälterin da gewesen, und mit der Kraft der Verzweiflung hatte sich Emily von ihrem Vater losgerissen und war zu der Frau gelaufen, hatte die Arme um die Beine der Haushälterin geschlungen und nicht mehr aufgehört zu schluchzen.
»Vater befahl ihr, mich heiß zu baden und mir etwas Warmes zu trinken zu geben. Dann ging er. Am nächsten Tag kam er zu mir in mein Zimmer, und ich schrie wie am Spieß, als ich ihn sah. Danach ging er fort. Bei seiner Heimkehr hatte er meine Stiefmutter Sybil und meine beiden Stiefschwestern bei sich.«
Emily hatte die Liebe ihres Vaters gebraucht, es aber noch Jahre danach nicht ertragen, ihm nahe genug zu sein, um von ihm berührt zu werden. Sybil hatte die Entfremdung vollendet, die seine trunkene Wut in Gang gesetzt hatte, und als Emily alt genug gewesen war, um den Schmerz ihres Vaters und seine durch den hohen Alkoholkonsum bedingte Grausamkeit verstehen zu können, war sie ihm schon zu fremd gewesen, als dass sich noch etwas hätte ändern können.
»Soviel ich weiß, hat er seitdem nie wieder einen Tropfen Wein angerührt, nicht einmal, als Sybil mit ihm auf die Geburt ihres ersten Sohnes anstoßen wollte. Auch da trank er nur Wasser.« Sie blickte zu Lachlan auf und fragte sich, was er von ihrer schrecklichen Geschichte halten mochte.
Seine Augen waren erfüllt von unterdrückter Wut und einem Mitgefühl, das sie gegen ihren Willen tief berührte. Schnell glitt sie von seinem Schoß hinab und erhob sich. Er machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten, aber sie brauchte noch mehr Abstand zwischen ihnen und ging deshalb zur anderen Seite des Turmzimmers hinüber.
Dort verschränkte sie beschützend ihre Arme vor der Brust. »Jetzt weißt du es.«
»Er war halb wahnsinnig vor Kummer.«
»Ja.«
»Trotzdem gibt es keine Rechtfertigung für sein Handeln. Ich würde jeden meiner Leute umbringen, der so etwas täte.«
Emily erschauderte, weil sie wusste, wie ernst es ihm mit dieser Bemerkung war. »Ich wollte nicht, dass er getötet wurde. Er war mein Vater.«
»Er hat dich nie wieder angefasst?«
»Nein.«
»Aber du bist von seiner Brutalität gezeichnet.«
»So könnte man es nennen. Meine Angst vor dem Wasser ist normalerweise kein Problem. Meistens kann ich sie ganz gut verbergen, und bis zu meiner Entführung war ich auch noch nie gezwungen gewesen, in ein Boot zu steigen.«
Lachlan verzog keine Miene über ihren kleinen Scherz. »Du kannst also immer noch nicht schwimmen?«
Ein heftiger Widerwille überkam sie bei dem Gedanken, den sie nicht mal zu verbergen suchte. »Nein.«
»Aber ich kann es.«
»Oh.« Sie wusste nicht, was sie sonst darauf erwidern sollte.
»Auf einer Insel zu leben und nicht schwimmen zu können, wäre ausgesprochen dumm.«
»Wahrscheinlich schon.«
»Ich werde dir das Schwimmen beibringen.«
Entsetzt schüttelte sie den Kopf und sagte zur Bekräftigung noch einmal heftig: »Nein!«
»Es muss sein, Emily, nicht nur deiner eigenen Sicherheit wegen, sondern auch, um deine Gespenster auszutreiben.«
»Es sind keine Gespenster, es ist nur eine Erinnerung.«
»Nenn es, wie du willst, aber ich habe versprochen, es zum Verschwinden zu bringen, und das werde ich auch tun.«
»Indem du mir das Schwimmen beibringst?«, fragte sie ungläubig.
»Ja.«
»Du bist verrückt. Ich will vom Wasser wegbleiben und nicht hinein!«
Er stand so plötzlich vor ihr, dass sie nicht hätte sagen können, wie er dorthin gekommen war. Vielleicht war er ja doch ein Zauberer. »Die meisten Lairds wären nicht sehr angetan davon, verrückt genannt zu werden«, sagte er in ruhigem Ton.
Emily biss sich auf die Unterlippe. Da hatte er vermutlich recht.
Er lächelte ein wenig und strich mit seinem Daumen sanft über die Lippe, auf die sie sich gebissen hatte. »Tu das nicht, sonst blutest du nachher noch.«
Sie fuhr zurück, weil seine Berührung sie mehr verstörte als ihre Erinnerungen. »Tut mir leid.«
»Dass du dir auf die Lippe gebissen hast?«
»Dass ich gesagt habe, du wärst verrückt.«
»Dann bist du also bereit, schwimmen zu lernen?«
Sie schluckte und überlegte fieberhaft. »Glaubst du wirklich, das könnte mir die bösen Erinnerungen nehmen?«
»Wenn ich es dir beibringe, ja.«
Natürlich glaubte er, der Einzige zu sein, der etwas von Bedeutung tun konnte. Immerhin war er der Laird. Emily presste die Lippen zusammen, um ein hysterisches Kichern zu unterdrücken, denn schließlich war überhaupt nichts Komisches an
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