Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
wenn da nicht eine Sache gewesen wäre.
Man erzählte sich, Mr Jacobs habe als junger Mann seine Ausbildung bei der Agentur Fittes in London absolviert. Damals muss er ein absolutes Ass gewesen sein, aber damit war es natürlich längst vorbei. Wie bei allen Erwachsenen war seine Gabe im Lauf der Zeit abgestumpft. Da er selbst keine Geister mehr aufspüren konnte, verließ er sich auf uns, die wir ihm als Augen und Ohren dienten. So weit, so gut. Das war bei anderen Beratern genauso. Sie nutzten ihre Erfahrung und ihren Erwachsenenverstand, um uns Agenten beim Auftauchen eines Besuchers anzuleiten. Sie arbeiteten die Strategie aus und gaben uns im Notfall Rückendeckung. In meiner Anfangszeit bei der Agentur war auf Mr Jacobs Verlass. Aber in all den Jahren hatte ihn das stundenlange Warten im Dunkeln zermürbt und sein Nervenkostüm wurde zusehends dünner. Schließlich weigerte er sich, die Einsatzorte selbst zu betreten, und schickte uns allein vor. Mit zitternden Händen Kette rauchend, rief er uns seine Anweisungen von ferne zu. Bei jeder Kleinigkeit schreckte er zusammen. Als ich eines Nachts zu ihm ging und Bericht erstatten wollte, verwechselte er mich mit einem Besucher. Er zog seinen Degen und schlitzte mir die Mütze auf. Nur weil seine Hand dabei so zitterte, kam ich mit dem Leben davon.
Wir gewöhnten uns daran und es war uns eigentlich egal. Er war derjenige, der uns bezahlte, außerdem profitierten wir von seinem Ansehen in unserer kleinen Stadt. Wir trafen einfach unsere eigenen Entscheidungen und alles ging gut. Bis zu jener Nacht in der Mühle von Wythburn.
* * *
Die Wassermühle stand in einiger Entfernung im Wythe-Tal und hatte einen schlechten Ruf. Mehrere Unfälle hatten sich dort ereignet, ein oder zwei davon auch mit tödlichem Ausgang. Der Mühlenbetrieb war schon seit Jahren eingestellt. Eine Holzfirma aus der Umgebung interessierte sich für das Gebäude und plante, es als Niederlassung zu nutzen, aber man wollte sichergehen, dass die Mühle keine Besucher beherbergte. Die Jacobs-Agentur wurde beauftragt, sich dort umzuschauen und das Gelände von allem Übernatürlichen zu säubern.
Wir zogen am frühen Abend los und erreichten die Mühle kurz nach Einbruch der Dämmerung. Es war ein lauer Sommerabend und die Vögel zwitscherten. Am Himmel funkelten die ersten Sterne. Die Mühle ragte wie ein dunkler Klotz zwischen Nadelbäumen und Felsen vor uns auf. Der Fluss schlängelte sich ein Stück unterhalb der Schotterstraße dahin.
Der Haupteingang war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Die Scheibe in der Tür war zerbrochen, jemand hatte provisorisch ein Brett davorgenagelt. Wir versammelten uns vor der Tür und überprüften unsere Ausrüstung. Mr Jacobs hielt wie üblich Ausschau nach einer Sitzgelegenheit, hockte sich auf einen Baumstumpf und zündete sich eine Zigarette an. Wir sondierten zunächst die Lage mithilfe unserer Gaben. Ich war die Einzige, die etwas wahrnahm.
»Ich höre jemanden schluchzen. Sehr leise, aber ganz in der Nähe.«
»Was für eine Art Schluchzen ist es denn?«, fragte Mr Jacobs, während sein Blick den Fledermäusen am Abendhimmel folgte.
»Es klingt nach einem Kind.«
Er nickte, sah mich aber nicht an. »Geht rein, sichert den Eingangsbereich hinter der Tür und schaut euch dann weiter um.«
Das Schloss hatte im Lauf der Jahre Rost angesetzt, die Tür war verzogen und klemmte. Wir stießen sie mit Gewalt auf und leuchteten mit unseren Taschenlampen in einen großen, trostlosen Raum. Die Decke war niedrig, die schmutzigen Linoleumfliesen auf dem Boden waren rissig geworden. Unsere Lampen beschienen Schreibtische, Schaukelstühle und vergilbte Zettel an den Wänden. Es roch nach Schimmel. Irgendwo unter dem Fußboden des Gebäudes hörte man den Fluss rauschen.
Als wir den Vorraum betraten, begleitete uns ein Schwall Zigarettenrauch nach drinnen. Agent Jacobs kam nicht mit. Er blieb draußen sitzen, den leeren Blick auf seine Knie gesenkt.
Wir blieben dicht zusammen, sondierten das Terrain erneut. Ich hörte es abermals schluchzen, diesmal lauter. Mit gelöschten Taschenlampen folgten wir dem Geräusch, das uns zu einem langen Flur brachte, der tiefer in das Gebäude hineinführte und an dessen Ende wir eine kleine leuchtende Gestalt ausmachten. Als wir die Taschenlampen wieder anknipsten, war niemand da.
Ich ging nach draußen und erstattete Mr Jacobs Meldung. »Paul und Julie meinen, die Gestalt sah wie ein Kind aus. Ich selber kann nicht viel
Weitere Kostenlose Bücher