Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
die Hand.
»Guten Tag«, sagte er. »Ich bin Anthony Lockwood.«
»Lucy Carlyle.«
Er hatte lebhafte dunkle Augen und ein leicht schiefes, aber anziehendes Lächeln. »Sehr erfreut. Tee? Oder hat Ihnen George schon etwas zu trinken angeboten?«
Der stämmige Junge sagte mürrisch: »Ich wollte warten, ob sie den ersten Test besteht. Ob sie dann überhaupt noch hier ist. Ich hab heute Vormittag schon jede Menge Teebeutel vergeudet.«
»Jetzt stell dich nicht so an. Gib ihr eine Chance und setz Wasser auf«, sagte Anthony Lockwood.
Der Junge schien nicht überzeugt. »Meinetwegen, aber ich wette, sie ist genauso eine Schisserin wie die anderen.« Er drehte sich gemächlich auf dem Absatz um und schlurfte aus dem Raum.
Anthony Lockwood bot mir einen Sessel an. »Nehmen Sie es George nicht übel. Seit heute früh um acht empfangen wir Bewerberinnen am laufenden Band. Wenn George Hunger hat, kriegt er immer schlechte Laune. Er war fest davon überzeugt, dass Ihre Vorgängerin die Letzte für heute war.«
»Tut mir leid. Donuts habe ich auch keine mitgebracht.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte er argwöhnisch.
»George hat mir von der täglichen Lieferung erzählt.«
»Ach so. Ich dachte schon, Sie sind übersinnlich begabt.«
»Bin ich ja auch.«
»Ich meine, über das übliche Maß hinaus. Egal.« Er setzte sich mir gegenüber aufs Sofa und strich die Papiere auf dem Tisch glatt. Er hatte ein schmales Gesicht, eine ebensolche Nase und dunkle Locken. Er war kaum älter als ich. Sein Auftreten war so selbstsicher gewesen, dass ich gar nicht über sein Alter nachgedacht hatte. Erst jetzt fragte ich mich, warum bei dem Bewerbungsgespräch kein Berater anwesend war.
»In Ihrem Anschreiben steht, dass Sie aus Nordengland kommen, Miss Carlyle. Aus der Gegend um die Cheviot Hills. Gab es da nicht vor ein paar Jahren einen berüchtigten Geist?«
»Den Kohlengruben-Killer . Da war ich erst fünf.«
»Damals wurden eigens Leute von Fittes aus London geholt, um die Besucher zu vertreiben, stimmt’s? Im Lexikon der Britischen Heimsuchungen steht ein großer Artikel darüber.«
Ich nickte. »Wir Kinder durften nicht hinschauen, damit uns die Besucher nicht die Seele stehlen, und in allen Häusern wurden die Erdgeschossfenster mit Brettern vernagelt, aber ich habe durch eine Ritze gespäht. Ich sah sie im Mondlicht die Straße entlangschweben. Zierliche Dingerchen, wie kleine Mädchen.«
»Kleine Mädchen?« Er sah mich erstaunt an. »Ich dachte, es hätte sich um die Geister von Bergleuten gehandelt, die bei einem Grubenunglück verschüttet wurden.«
»Ursprünglich schon. Aber es waren Wandler. Bevor Fittes der Heimsuchung ein Ende bereitete, hatten sie x-mal ihre Gestalt verändert.«
»Ach so. Ja, das kommt mir bekannt vor … Nun gut, Sie wussten also schon früh, dass Sie mit einer Gabe gesegnet sind. Sie sind eine Schauende, mehr als andere Kinder, und Sie waren mutig genug, diese Fähigkeit auch zu nutzen. Aus Ihrem Schreiben geht jedoch hervor, dass dies nicht Ihre eigentliche Stärke ist, sondern dass Sie eine Hörende sind. Die zudem die Gabe des Fühlens besitzt.«
»Stimmt. Das Hören ist meine Spezialität. Schon als Baby in der Wiege habe ich draußen auf der Straße leise Stimmen vernommen – während der Ausgangssperre, wenn alle Lebenden zu Hause waren. Fühlen kann ich auch, aber dabei überlagert sich meine Wahrnehmung oft mit dem, was ich höre. Es ist schwierig, beides zu trennen. Bei mir kann eine Berührung auch das Echo eines vergangenen Geschehens auslösen.«
»George besitzt diese Gabe ebenfalls. Ich leider nicht. Was Besucher angeht, bin ich praktisch taub. Mein Fachgebiet ist das Schauen. Todesscheine und andere schaurige Rückstände der Verstorbenen …« Er grinste. »Ein nettes Thema, was? In Ihrem Lebenslauf steht auch, dass Sie in Ihrer Heimat bereits im Außendienst gearbeitet haben. Bei einem gewissen …«, er blickte auf das Blatt, »… Mr Jacobs, richtig?«
Ich setzte ein unverbindliches Lächeln auf. »Stimmt.«
»Sie haben mehrere Jahre für ihn gearbeitet.«
»Stimmt.«
»Heißt das, er hat Sie auch ausgebildet? Haben Sie dort den Vierten Grad erhalten?«
Ich rutschte auf meiner Sesselkante herum. »Ja. Alle Grade von Eins bis Vier.«
»Gut … Sie haben Ihr Abschlusszeugnis nicht beigelegt und auch kein Empfehlungsschreiben von Mr Jacobs. Das ist ungewöhnlich. Normalerweise gehört so etwas zu einer ordentlichen Bewerbung dazu.«
Ich überwand mich.
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