Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)

gestanden hätte. Ich war stinksauer und polterte die Treppe genauso laut hinunter wie George.
    Unten im Büro brannte seine Schreibtischlampe. Der Tisch selbst war ein einziger Saustall: Papiere, benutzte Teebecher, Apfelbutzen, Chipstüten und angebissene Brote zeugten von einer langen Nachtwache. In einer Ecke stand das Geisterglas. Der Totenschädel war hinter dem gelblichen Dunst kaum zu erkennen. Aus unerfindlichen Gründen waberte das körperlose Gesicht heute kopfüber.
    George zog ein paar Papiere aus dem Durcheinander, aber ich wartete nicht ab, bis er loslegte, sondern kam ihm zuvor.
    »Weißt du, was dein Problem ist? Du bist eifersüchtig.«
    George machte ein verdutztes Gesicht. »Auf wen?«
    »Auf mich.«
    Er lachte verächtlich. Der Kopf im Geisterglas äffte ihn nach und schnitt eine theatralische Fratze. »Na klar doch. Du bist ja auch die Tollste. Du hast zwar gerade das Haus eines Klienten abgebrannt, aber du bist die beste Mitarbeiterin, die wir je hatten.«
    »Ganz recht. Mein Vorgänger ist nämlich tot.«
    Das brachte ihn kurz aus der Fassung, aber er fing sich gleich wieder. »Darum geht es hier nicht.«
    »Doch, genau darum! Wie genau ist Robin noch mal umgekommen?«
    »Ist einer Blutrippe begegnet, hat Panik bekommen und ist vom Dach gesprungen.«
    »Eben, ich dagegen habe überlebt, und das an vorderster Front. Wo man dich nur selten antrifft. Und das wurmt dich, gib’s doch zu! Du hast das Gefühl, dass du außen vor bist. Stimmt genau. Und ich lasse mir von dir kein schlechtes Gewissen einreden, weil ich losgehe und die Probleme anpacke, statt mich in verstaubten Büchern zu vergraben. Darum geht es!«
    »Na schön.« Er schob seine Brille hoch. »Vielleicht hast du recht. Ich denke bei Gelegenheit mal drüber nach. Aber vielleicht wirfst du solange einen Blick auf diese verstaubten Dokumente, die ich gestern ausgegraben habe, während ihr hier die Probleme zwar angepackt, aber leider keine Eisenketten eingepackt habt. Das erste Dokument stammt aus dem Grundbuchamt und bezieht sich auf die Sheen Road 62, wo du gerade herkommst. Es ist eine Liste aller Leute, denen das Haus in den letzten hundert Jahren gehört hat. Ganz unten stehen Mr und Mrs Hope, aber die kennst du ja schon. Eine gewisse Miss Annabel E. Ward dagegen, die das Haus vor fünfzig Jahren erworben hat, dürfte dir neu sein. Behalte den Namen bitte im Hinterkopf. Ich habe gestern so lange gebraucht, weil ich noch im Nationalarchiv recherchiert habe. Ich habe alle Namen auf der Grundbuchliste mit alten Zeitungsartikeln abgeglichen. Warum? Weil ich keine Überraschungen mag, darum. Und ich habe tatsächlich etwas Überraschendes gefunden. Mich hat interessiert, ob einer der Käufer aus irgendeinem Grund öffentliche Aufmerksamkeit erregt hat. Und stell dir vor – bei einem war das tatsächlich der Fall.«
    Mit seinen tintenverschmierten Fingern förderte er ein zweites Blatt zutage, die schmuddelige Fotokopie eines Zeitungsartikels.
    Der Artikel stammte aus dem Richmonder Anzeiger , die Ausgabe war neunundvierzig Jahre alt.
    JUNGE FRAU VERMISST
    POLIZEI BITTET UM MITHILFE
    Die Polizeidienststelle, die das Verschwinden einer jungen Dame der Londoner Gesellschaft untersucht, bat gestern erneut um Hinweise aus der Bevölkerung.
    Miss Ward (20), wohnhaft in der Sheen Road in Richmond, ist seit dem späten Samstagabend des 21. Juni spurlos verschwunden. Sie dinierte mit Freunden in einem Nachtklub in der Chelsea Bridge Road, den sie kurz vor Mitternacht verließ. Am folgenden Tag erschien sie nicht zu einer Verabredung. Ihr Bekanntenkreis wurde eingehend befragt, konnte aber bislang nichts Entscheidendes zur Lösung des Falles beitragen. Sachdienliche Hinweise werden unter der unten stehenden Telefonnummer entgegengenommen.
    Eine Großfahndung nach Miss Ward, einer aufstrebenden Schauspielerin und gern gesehenem Gast bei gesellschaftlichen Ereignissen aller Art, ist mittlerweile eingeleitet. Ihr Haus und dessen Umgebung werden seit Tagen durchkämmt, Polizeitaucher suchen Seen und Flüsse nach ihr ab. Miss Wards Vater, Mr Julian Ward, hat eine beträchtliche Belohnung für …
    »Hast du Schwierigkeiten beim Lesen?«, fragte George. »Kein Wunder. Der Artikel geht ja immerhin über ganze zwei Spalten oder noch mehr. Ich fasse den Inhalt mal für dich zusammen. Miss Wards Hausnummer wird nicht genannt, aber ich gehe davon aus, dass es sich um dieselbe Annabel Ward handelt, die beim Grundbuchamt eingetragen ist. Das Datum passt