Lodernde Begierde
sie im Schatten direkt vor der Tür stand. Der Maskenball war bereits in vollem Gange. Wie sollte sie einen auch nur irgendwie gearteten Eindruck in diesem Raum voller Luxus und überschäumender Lebensfreude hinterlassen?
Dann erinnerte sie sich daran, dass sie eigentlich nichts von alledem sehen sollte. Sie wandte sich zur Seite, setzte die Brille ab und legte ihre Maske an. Dann holte sie tief Luft und zwang ihre Füße vorwärts. Ein Schritt. Noch einer. Sie sehnte sich nach dem schützenden Mantel, den sie einem Lakaien überlassen hatte. Lieber säße sie wieder in Lementeurs Zuckerbäckerkutsche und preschte in die Nacht hinaus.
Du hast selbst darum gebeten. Um ganz genau zu sein: Du hast darum gebettelt.
Als sie sich daran erinnerte, fühlte sie, dass ihr rasant schlagendes Herz seine Geschwindigkeit drosselte. Das hier war nichts, was ihr aufgezwungen wurde – sie selbst hatte diese Nacht aus freien Stücken anvisiert.
Ein neues Gefühl der Macht und der Zielgerichtetheit erfüllte sie. Sie war nicht hier, um sich zu verstecken und um die einfache »Sophie Bohnenstange« zu sein.
Sie war heute Nacht hierhergekommen, um Sofia zu sein.
Langsam hob sich ihre rechte Hand, und mit einem präzisen Abknicken ihres Handgelenks öffnete sie ihren Fächer mit einer einzigen graziösen Bewegung. So.
Ein heimliches Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Sofia war angekommen.
Mit gerecktem Kinn, zitterndem Magen und einem kunstvoll von den nackten Schultern gerutschten Schal glitt sie die Stufen zu dem großen Ballsaal hinunter. Wenn jemand danach fragen sollte, wäre Tessa gerade zum Luftschnappen nach draußen gegangen.
Gemäß Lementeurs Instruktionen mied sie die Nähe von Möbeln, Pfeilern und Kübelpflanzen. Man konnte schließlich nicht über etwas stolpern, was nicht da war.
Sie platzierte sich für alle sichtbar – Gott sei Dank verschwamm die Welt ohne ihre Brille zu einem bedeutungslosen Brei, sodass sie nichts sehen konnte, als die wenigen Gesichter, die ihr am nächsten waren. Im Grunde war das ziemlich beruhigend.
Genau wie angewiesen vollzog sie einen lustlosen, sich schlängelnden Kurs durch den Ballsaal, während ihre Miene den höchsten Grad hochnäsiger Langeweile vermittelte.
Dann wählte sie einen gut beleuchteten und für alle sichtbaren Platz, um Hof zu halten. Einen Augenblick lang kam ihr Entschluss ins Wanken. Warum sollte irgendjemand mit ihr sprechen wollen? Man würde sie auf die Straße werfen und als Hochstaplerin bezeichnen.
Doch Lementeur hatte einflussreiche Freunde, genau wie er versprochen hatte. Ein Gentleman nach dem anderen trat mit seiner herrlich gekleideten Dame im Schlepptau zu ihr, um sie zu begrüßen, als würden sie sie seit Jahren kennen. Sie versuchte krampfhaft, nicht zu blinzeln, und spielte mit, grüßte jedes auswendig gelernte Gesicht mit dem richtigen, auswendig gelernten Namen, wobei sie das Zittern in ihrer Stimme unterdrückte.
Es waren wichtige Namen, manche von so hohem Rang, dass sie geglaubt hatte, Lementeur würde sie auf den Arm nehmen. Doch alle waren sie da – Reardon, Wyndham, Etheridge, Greenleigh – und so weiter, einer attraktiver als der vorherige, und jede Dame noch eleganter und noch schöner.
Wenn Sophie nicht gewusst hätte, was für ein Mummenschanz das Ganze war, wäre sie von ihrer eigenen Bedeutung sehr beeindruckt gewesen. Die hoch angesehenen Herrschaften standen Schlange und kehrten Minuten später mit eifrigen jungen Adeligen zurück, die darum gebeten hatten, mit ihr bekannt gemacht zu werden.
Es war eine lächerliches Spiel und dabei doch so einfach. Sophie fragte sich, warum sich nicht jeder so in die Gesellschaft einführte. Dann kam ihr die Idee, dass vielleicht die Leute um sie herum genau das taten. Womöglich hatte sich ein guter Teil der Personen hier im Raum als Hochstapler Zutritt zur gehobenen Gesellschaft verschafft.
Sophie nahm Einladung um Einladung entgegen, ohne sich wirklich die Mühe zu machen, sich die Namen einzuprägen, denn sie kamen zum größten Teil von dummen Jungen. Lementeur hatte ihr gesagt, sie solle an niemandem spezielles Interesse zeigen, denn das würde sie als empfänglich ausweisen.
»Heute Nacht ist nur der erste Aufruf zur Jagd, meine Liebe«, hatte er ihr eingeschärft. »Ihr müsst das geschickteste und unzugänglichste Wild sein, das die Meute je gejagt hat. Denkt daran: Leicht erlegt, schnell vergessen.«
Lementeur hatte sein Versprechen gehalten. Sie schien eine
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