Lösegeld am Henkersberg
Hauswänden.
Tim sah die Ecke, wo der Blonde jetzt
den Kopf vorschob.
Damit war auch klar, was die
Aufmerksamkeit anzog: ein Hotel, das einzige hier. Witzigerweise nannte es sich
LIDO-PALACE. Und das inmitten des baumlosen, rußgeschwärzten Häusermeers unweit
des Hauptbahnhofs! Lido-Palace — die grellweiße Neon-Leuchtschrift über dem
Eingang verkündete es. Immerhin gab’s nebenan ein Parkhaus: ein Lichtblick für
jene Hotelgäste, die nicht per Bahn anreisten, sondern mit dem Wagen.
Was war so interessant an dieser
Absteige? Auf wen wartete das Duo?
Tim schob sein Rad dicht an der
Hauswand entlang, bis er die Einmündung fast erreicht hatte. Noch näher konnte
er nicht, sonst hätte der Blonde ihn bemerkt. Ein zurückgesetzter Hauseingang
bot sich an als Versteck. Tim lehnte sein Rad an die Mauer und stellte sich ins
Dunkel. Indem er die Ohren spitzte, hörte er dann und wann die Stimme des
Blonden. Der sprach zwar leise, aber seine Kehlkopflaute hatten viel gemeinsam
mit einer verstimmten Orgelpfeife: schrill wie das Hämmern auf Blech,
mißtönend.
Schon vor dem ,Halben Ohr’ war Tim
aufgefallen, daß der Blonde in keinen Gesangsverein paßte. Aber sicherlich
verzehrte sich der Typ deshalb nicht vor Gram.
„...Einriiico... likit Pinke...
wiiir... hähähä...“
Tim konnte nichts verstehen. Nur
Brocken trug der Abendwind her. Freilich: Der Name Enrico wurde wiederholt. Tim
glaubte, ihn deutlich zu verstehen.
Dann kam ein Taxi von der anderen Seite
der Straße herunter und hielt vor dem LIDO-PALACE.
Ein stämmiger Typ im knallgelben Mantel
stieg aus. Neonlicht spiegelte sich auf schwarzen Schmalzlocken, und das
Gesicht schien eckig und verbeult zu sein wie bei einem Profi-Boxer.
Der Mann lachte gröhlend, und das galt
jenem, der straßenseitig aus dem Taxi kletterte. Tim rieb sich die Augen.
Zwillinge? Nein. Aber Brüder! Der andere war etwas größer, etwas weniger eckig
im Gesicht, etwas weniger schmalzlockig.
Der Taxifahrer — ein altes, dünnes
Männchen — bemühte sich, zwei Koffer aus dem Kofferraum zu heben: eine
Anstrengung, die ihn fast umwarf. Immerhin schien er mit dem Trinkgeld
zufrieden zu sein, denn er nahm ehrerbietig seine Schildmütze ab.
Die Brüder — Tim hielt sie für
Italiener — nahmen je einen Koffer und traten ins Hotel.
Das Taxi fuhr weiter. Als es zur Ecke
kam, sprang der Blonde auf die Straße und hob die Hand als Signal.
Der Wagen hielt. Beide stiegen ein, und
Tim drückte sich in den Hauseingang, als sie an ihm vorbeifuhren.
Hm! dachte er. War wohl ein Schuß in
den Ofen. Beschattung für nichts. Hätte ich mir sparen können. Uns betrifft es
ja nicht, was diese Typen miteinander zu schaffen haben. Sonst könnten wir
gleich jeden Zwielichtigen aufs Korn nehmen. Gibt nur ein paar tausend in der
Stadt. Um unseren Leo geht’s jedenfalls nicht.
12. Es sollte nicht sein
Der Morgen graute. Aber es war noch zur
früh fürs Tageslicht. Straßenlaternen klecksten ihren milchigen Schein durch
die Ritzen der Jalousie — in Gabys Zimmer. Immerhin — die Nacht war nicht mehr
ganz so duster außerhalb der Lichthöfe. Und außerdem: An ihrer inneren Uhr
merkte Gaby, daß es Zeit war zum Aufstehen.
Sie reckte sich und gähnte, wie junge
Damen sonst nicht gähnen. Oskar grunzte in seinem Körbchen. Und auf der
Bettcouch drüben raschelte Alice mit dem Kopfkissen.
Gaby knipste die Nachttischlampe an und
sah hinüber. Alice lächelte und hatte die Augen geöffnet. Sie schien putzmunter
zu sein.
„’n Morgen, Alice! Gut geschlafen?“
„Sehr gut! Ich schlafe immer gut, wenn
ich woanders bin. An Ortswechsel gewöhne ich mich leicht.“
„Na, prima! Ich fürchtete schon, Oskar
würde dich stören. Er hat wieder von seiner Dackel-Freundin geträumt und im
Schlaf ge winselt.“
„Das ist gar nichts“, Alice setzte sich
auf, „gegen meinen Graupapagei. Coco trillert und flötet auch nachts. Außerdem
kann er mehrere Nationalhymnen pfeifen. Ich bin also abgehärtet. Wer geht
zuerst ins Bad?“
Gaby stieg aus dem Bett, tätschelte
Oskar, der nur kurz den Kopf hob, und öffnete die Tür zum Flur. Sie hörte ihre
Eltern im Wohnzimmer, wo sie gedämpft redeten, um die Mädchen nicht zu stören.
„Das Bad ist frei, Alice. Du zuerst.
Ich mache inzwischen unsere Betten. Doch! Du bist mein Gast. Und Gäste haben es
immer etwas besser. Kannst dich revanchieren, wenn ich dich in Brüssel besuche.“
Alice schlüpfte in ihren Bademantel und
huschte am Wohnzimmer
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