Löwenherz. Im Auftrag des Königs
Der Zeitpunkt der Geiselnahme war perfekt gewählt. Das Segel war gut gesetzt, der Wind blies beständig, die LÖWENHERZ konnte also auch ohne Mannschaft segeln – zumindest solange der Wind nicht drehte oder abflaute. Ohne Mannschaft bedeutete, dass …
Guys Blick fiel auf das Beiboot, das umgedreht auf dem Deck lag. Robert schien denselben Gedanken zu haben und grinste.
»Vielleicht ist es uns ja egal, was mit dem Schiffsmeister passiert«, sagte der Steuermann. »Oder mit dem Normannen hier.«
»Aber es sollte euch kümmern, dass Johnny Greenleaf in diesem Moment unter Deck ist«, sagte Robert.
»Hat er sich müde gekotzt?«, fragte der Steuermann.
Die Matrosen lachten und traten näher heran. Die Hände einiger Männer öffneten und schlossen sich in Erwartung eines Kampfes.
Guy räusperte sich nervös. Er fürchtete, dass die Kerle die Entschlossenheit der drei Grünschnäbel unterschätzten, und der erste Leidtragende würde er sein. Die Spitze seines eigenen Schwerts drückte schmerzhaft gegen die weiche Haut an seinem Hals.
»Nein, er hat Löcher in die drei Tranfässer geschlagen, die unten lagern«, sagte Robert.
Die Männer erstarrten in der Bewegung. »Tran?«, fragte der Steuermann mit dick aufgesetzter Arglosigkeit.
»Den Tran, den man in Lampen verwendet, meine ich. Von den drei Tranbehältern steht jedes in einem größeren, mit Wasser gefüllten Fass, damit ja kein Funke drankommt. Jetzt ist aber kein Wasser mehr drin. Johnny hat nämlich auch Löcher in die äußeren Fässer gehauen.«
Die Augen des Steuermanns verengten sich und seine Hände ballten sich zu Fäusten. In der Luke, die unter Deck führte, erschien Johnny und rief fröhlich: »Wer hat hier von Funkenflug geredet?« Er hielt eine brennende Fackel in der Hand.
Hugo ergriff zum ersten Mal das Wort: »Was habt ihr getan, ihr Narren?«
»Nur dafür gesorgt, dass das ganze Unterdeck in Tran schwimmt. Wenn ich die Fackel fallen lasse … Ups …«
Wie ein Mann sprangen die Matrosen zurück und rissen unwillkürlich die Arme vors Gesicht. Feuer ist des Seemanns schlimmster Feind. Man kann sich davor nur in die Arme des anderen großen Feindes flüchten: des Meeres.
Johnny lächelte. »War nur ein Scherz.«
»Was nun?«, fragte der Schiffsmeister heiser.
»Ihr lasst das Beiboot hier runter«, befahl Robert, »und nehmt ein Fass frisches Wasser mit. Ab da trennen sich unsere Wege. Und zwar schnell, sonst seht ihr als Nächstes die LÖWENHERZ in Flammen stehen.«
»Das wagt ihr nicht!«, krächzte Hugo erstickt.
»Was haben wir denn zu verlieren, hm? Eine Karriere als Sklaven von Sire Guy?«
Die Matrosen seilten das Boot gehorsam über die Bordwand ab, dann ließen sie eine Strickleiter die Reling herabgleiten. Zwei hielten das Boot an seinen Tauen fest, die anderen kletterten hinunter.
»Wo sind die Ruder?«, rief der Steuermann.
»Die bekommt Ihr, wenn Ihr im Boot sitzt.«
»Uns ohne Ruder auf dem Meer auszusetzen, ist Mord«, sagte Hugo.
»Ja«, erwiderte Edith, »wir sollten uns an Eurer Barmherzigkeit ein Beispiel nehmen und Euch stattdessen an Steine binden.«
Sire Guy, der die ganze Zeit auf den richtigen Augenblick gewartet hatte, duckte sich plötzlich unter der Schwertklinge hindurch und schlug Edith aufs Handgelenk. Das Schwert wirbelte davon. Guy griff nach dem Mädchen, doch da hielt ihn etwas zurück. Es war die Hand des Steuermanns, die sich in seinen Oberarm krallte. Der Steuermann wies mit verzerrtem Gesicht auf Johnny, der neben der Luke stand und die Fackel mit zwei Fingern über die Öffnung hielt. Robert hatte Hugo gegen die Reling und dann auf die Knie gezwungen, indem er sein Schwert noch fester gegen den Hals des Schiffsmeisters gedrückt hatte. Aus dem einen rollenden Blutstropfen war ein schmaler Faden geworden, der sich über den Stahl zog.
»Keine Dummheiten!«, rief Robert. Johnny wedelte mit der Fackel über der Lukenöffnung. Ein brennender Pechtropfen fiel herab. Die Seeleute schrien auf. Johnny fing den Tropfen mit der Stiefelspitze ab und trat ihn dann mit dem anderen Schuh aus.
Der Steuermann zerrte Guy zurück. »Keine Dummheiten«, sagte auch er und klang dabei genauso angespannt wie Robert.
Edith hob das Schwert auf und hielt Guy damit weiter in Schach. Der Normanne wusste nicht, ob er vor Wut oder vor Demütigung schreien sollte. »Beim nächsten Mal, wenn ich Euch erwische, wird Euch niemand zu Hilfe kommen«, flüsterte er heiser.
Am Ende standen nur noch Hugo und Sire Guy
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